Santiago, Santiago
unterschieden. Wie kann es geschehen, daß eine ganze soziale Gruppe ausgestoßen und in eine derartige Stellung gedrängt wird? Interessant auch, daß ihnen doch das Recht zum Kirchenbesuch zugestanden wurde, allerdings nur durch den erwähnten kleinen Nebeneingang. Durch welchen Eingang sind sie wohl in den Himmel gelangt?
Es folgt eine Höhenwanderung nach Montréal, offensichtlich auf einem uralten Fahrweg. Er ist links und rechts von hohen Hecken gerahmt, und er wird von der Bevölkerung kaum mehr befahren und begangen. Gras wächst darauf, da und dort beginnt schon ein Strauch zu sprießen. Es wird viele Pilger brauchen, um ihn offenzuhalten. Wahrscheinlicher ist es, daß man hier in einigen Jahren nicht mehr durchkommt.
Wo Sorge und Unterhalt fehlen, zerfallen zuerst die Zäune; dann wachsen die Wege zu, und am Ende die Straßen. Der Vorgang erinnert mich an Johann Peter Hebels großartiges Gedicht »Die Vergänglichkeit«, wo es heißt:
... und s’Hus wird alt und wüest;
der Rege wäscht der’s wüester alli Nacht,
und d’Sunne bleicht der’s schwärzer alli Tag,
und im Vertäfer popperet der Wurm.
Es regnet no dur d’Bühni ab, es pfift
der Wind dur d’Chlimse. Drüber tuesch du au
no d’Auge zue; es chôme Chindeschind,
und pletze dra. Z’letzt fuults im Fundement,
und s’hilft nüt me. Und wemme nootno gar
zweituusig zehlt, isch alles zemmegkeit.
Und s’Dörfli sinkt no selber in si Grab.
Wo d’Chilche stoht, wo s’Vogts und ’s Here Hus,
goht mit der Zit de Pflueg
Meine Schienbeinsehne holt mich in die Gegenwart zurück. Wir sind endlich in Montréal. Es ist Zeit: das linke Fußgelenk ist jetzt geschwollen. Wir werden das Städtchen später ansehen, es sieht ohnehin nach einer erzwungenen Pause aus. In etwa einem Kilometer Entfernung, unten in der Ebene, sind wir in einem Bauernhof, der Gäste aufnimmt, angemeldet. Das ist noch zu machen. In der Mitte des Nachmittags sind wir dort.
Die Ferme-Auberge von Mâcon: Pause bei Yolanda und Pierre
Wir befinden uns in einem kleinen Paradies. Darin waltet Yolanda, assistiert von Pierre. Das Paar stammt aus der Gegend, hat aber lange in Bordeaux gearbeitet, bis die beiden vom Stadtleben genug hatten und zurückgekehrt sind. Sie haben die heruntergekommene Domaine Mâcon gekauft und sind daran, sie zur Auberge auszubauen. Es gibt da ein Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert. Ein Zimmer ist schon renoviert, ein weiteres ist in den nächsten Tagen soweit. Neben diesem Haus steht ein Ökonomiegebäude mit einem Rundturm. Ich frage mich, ob es einstmals drei weitere solche Türme gegeben hat und das Ganze eine kleine Burg gewesen ist. Heute ist der Turm ein Pigeonnier.
Zwischen dem Herrenhaus und dem Ökonomiegebäude ist ein schattiger kleiner Hof, auf dessen Rasen man herrlich speist. Aber Yolandas Haus ist keine Wirtschaft. Man muß sich bei ihr anmelden, wenn man zum Essen kommen will. Dann ist man jedoch ihr persönlicher Gast, und sie liest einem die kulinarischen Wünsche von den Lippen ab.
Hinter den Gebäuden dehnt sich der ehemalige Park mit charaktervollen Edelkastanien. Heute herrscht hier ein munteres Vogelleben: Pfauenfamilien stolzieren daher, eine kleine Gänseherde residiert einmal da und einmal dort, Enten suchen den Boden ab, und alle Arten von glücklichen Hühnern picken in der Obhut ihrer Hähne am Boden herum. Etwas weiter hinten weiden die Schafe. Hier werde ich in den folgenden Tagen mein Bein zu kurieren suchen.
Pierre ist von Beruf Elektriker. Er hat einen Sohn, der an einem Lycée Philosophie unterrichtet und Redaktor einer pädagogischen Zeitschrift ist. Yolanda sagt von sich, daß sie im medizinischen Bereich gearbeitet habe. Sie ist eine rassige, extrovertierte junge Frau, die unsere Fußreise großartig findet und am liebsten mitkäme, wenn wir weiterwandern.
Vorderhand ist unser Unternehmen allerdings »en panne«. Pierre hat uns im Wagen nach Montréal mitgenommen, und ich habe meinen Hausarzt angerufen. Die Ferndiagnose war eindeutig: Entzündung von Tibialis anterior; mehrere Tage Ruhe, Bein hochlagern, kalte Umschläge.
Vorher will ich aber, wenn auch hinkend, noch das Städtchen ansehen. Es ist zu Ende des 13. Jahrhunderts auf seinem Felssporn als Bastide, das heißt als geplante Gründung, entstanden. Das erkennt man noch heute an der Rechtwinkligkeit seines Grundrisses. Auf dem quadratischen Hauptplatz und unter seinen Arkaden wird Markt gehalten. Man kennt sich, jeder weiß, wer der andere ist; das
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