Santiago, Santiago
läßt mich ausharren. Bestellt haben wir keine Unterkunft. Die Ferienzeit ist vorbei, bisher haben wir überall Platz gefunden. Wir versuchen es im »Hotel des Cordeliers«: kein Platz. Am anderen Ende der Stadt, am Fluß unten, soll es ein weiteres Hotel geben. Wir haben keine Wahl. Unter Schmerzen durchquere ich die Stadt. Es ist ein bescheideneres Etablissement. Die abenteuerliche Üppigkeit der Wirtin läßt uns zögern, und auch der abgeschabte Plüsch und der staubige Samt der Möblierung stimmen uns eher bedenklich. Doch die Müdigkeit und meine Schmerzen überwiegen. Und wirklich: das Nachtessen ist gut gekocht, das Dessertbuffet reichhaltig, und der lokale Wein, ein ärmerer, aber durchaus honorabler Bruder des noblen Bordeaux, löst den letzten Rest unserer anfänglichen Skepsis in lauter Zufriedenheit auf.
Städte haben wie Menschen ihre Persönlichkeit. Lectoure haben wir als gediegen, mit einem Zug zur Strenge, empfunden. Condom hat weniger Form, es wirkt auf uns kommuner. Auch an der Kathedrale ist bei näherem Zusehen nicht viel, die Mittelmäßigkeit scheint in und außer der Kirche vorzuherrschen. Oder ist in dieser Wahrnehmung ein subjektives Element enthalten? Am Abend unserer Ankunft ist uns in dieser Stadt der Photoapparat gestohlen worden, und vielleicht nehme ich es ihr übel, daß wir im Hotel des Cordeliers abgewiesen worden sind. Wir haben in Condom nur einen Abend und eine Nacht verbracht: unser Eindruck ist eine bloße Anmutung.
Nebeneingang für die Cagots und mehr Schmerzen
21. Tag: Von Condom nach Montreal-du-Gers
Unter Schmerzen marschiere ich mit Verena aus der Stadt hinaus. Die Schienbeinsehne hat sich im Verlaufe der Nacht nicht beruhigt. Jetzt hoffe ich noch, die Bewegung werde das Übel heilen. Ein sympathisches Sträßlein zieht unter Alleebäumen dahin. Auf einer Anhöhe zweigt der Weg ab und senkt sich ins Tal der Osse, eines kleinen Nebenflusses der Baise, die durch Condom fließt. Es geht holprig abwärts, denn ein Bauer hat den Weg zusammen mit dem angrenzenden Acker einfach umgepflügt.
Unten stoßen wir auf einen Bach, der in die Osse fließt. Er biegt in einen Wald ein, und der Weg verliert sich hier in einem kleinen Sumpf. Wir versuchen ihn zu umgehen, geraten dabei aber in ein Dickicht von Schlingplanzen, Winden und niedrigen Brombeerranken. Glücklicherweise bilden diese auf Gürtelhöhe einen kompakten Teppich, den ich, wenn auch mit Mühe, heruntertreten kann. So kämpfen wir uns vorwärts. Dann lichtet sich das Dickicht, es ist nur noch ein feuchter, struppiger Wald mit vielen umgestürzten Bäumen. Hier ist es ganz still. Unsere Spannung löst sich. Wir sinken in den weichen Boden ein, überschreiten aber den Bach ohne Mühe, klettern auf der anderen Seite hinauf und stoßen wieder auf den Weg. Wir sind nun viel nässer, als wenn wir den Sumpf durchquert hätten. Nach geschlagener Schlacht ist man klug...
Nach dem Wald geht es einem Maisfeld entlang. Der gleiche Bauer, der oben den Weg umgepflügt hat, fand hier offenbar, man könne auf einem Wanderweg drei weitere Reihen Mais pflanzen. Also winden wir uns jetzt zwischen übermannshohen Maispflanzen hindurch: das zweite Dschungelerlebnis dieses Tages.
Endlich wieder ein Sträßchen. Wir sind dankbar und erleichtert. Aber jetzt meldet sich prompt auch wieder mein Schienbein. Im Kampf mit den Lianen und den Maispflanzen hatte ich es vergessen.
Die Brücke über die Osse hat den Namen »Pont d’Artigue«; sie ist Jahrhunderte alt und erscheint in vielen Pilgerberichten. In ihrer Nähe soll ein Hospital gestanden haben, doch wir entdecken davon nicht die geringste Spur. Sic transit...
Wir steigen nun durch blühende Sonnenblumenfelder, Mais und Reben an einem Berghang auf, gegen eine einsam gelegene kleine Kirche. Sie soll die älteste im Umkreis von Montréal sein. Das Interessante an ihr sind die zwei Eingänge, einer für die »rechten Leute« und ein kleiner Seiteneingang für die »Cagots«.
Wer waren die Cagots? Ich habe mich seither in den Büchern umgesehen und herausgefunden, daß sie eine Unterschicht innerhalb der Bevölkerung des Pyrenäenfußes bildeten, eine Art abgesonderter Kaste, ähnlich den Aussätzigen des Mittelalters und den Fahrenden unserer Tage, wie diese in marginaler kultureller und wirtschaftlicher Stellung. Lange dachte man, es handle sich um eine fremde Rasse, den Zigeunern vergleichbar. Inzwischen weiß man, daß sie sich biologisch in nichts von der übrigen Bevölkerung
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