Santiago, Santiago
gemäß Wanderführer eine alte »Commanderie« sein soll. Was ist das? Ich habe das Wort nie gelernt, und ein französisches Wörterbuch trage ich auch nicht im Rucksack. Aber ich habe einmal das Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer »Der Rappe des Komturs« auswendig lernen müssen, und jetzt, 50 Jahre später, wird mir klar, daß eine »Commanderie« eine Komturei, ein Sitz des Johanniterordens, sein muß.
»Schau um dich, Hannes, und nicht nur in dich hinein.« Die Landschaft ist viel grüner, als wir sie hier unten erwartet haben. Wir befinden uns schon weit im Südwesten Frankreichs, nur noch etwa 100 Kilometer vom Atlantik entfernt. Es ist nicht die trockene, mediterrane Provence mit ihren Ockerfarben. Die Meereswinde bringen hier reichlichen Regen. Zusammen mit der südlichen Sonne erzeugen sie eine fruchtbare Gartenlandschaft.
Gegen Mittag sind wir schon in Eauze. Es ist gutgegangen, meine Schienbeinsehne spielt wieder mit. Die Stadt erinnert uns an Condom: viel Leben, eine Stierkampfarena, ein lokaler Markt, nichts Herausragendes. Und doch ist Elusa eine wichtige römische Kolonie gewesen und schon im vierten Jahrhundert Bischofssitz geworden. Die Religionskriege haben der Stadt allerdings schwer zugesetzt, und sie scheint sich nie mehr ganz von den damaligen Verlusten an menschlicher, wirtschaftlicher und kultureller Substanz erholt zu haben.
Wir logieren im »Grand Hotel« von Eauze. Es hat schätzungsweise zwölf Zimmer, und die Treppe in den Oberstock knarrt so laut, daß wir unserem Abmarsch früh am nächsten Morgen mit Sorge entgegensehen: wir möchten ja nicht das ganze Haus wecken. Aber die Küche des Hauses ist gut, und die Wirtsleute sind freundliche Menschen.
Das Warten wieder lernen
23. Tag: Von Eauze nach Nogaro
Der Morgen kündet einen Regentag an. Wir fürchten die Nässe der kleinen, eingewachsenen Wege und wählen an ihrer Statt eine kleine Landstraße, die den Wanderweg auf Distanz begleitet. Verena marschiert in ihrer Windjacke aus dem neuen, atmenden Gewebe, ich habe meine rote Pelerine übergezogen. Der feine Regen stört uns wenig, aber nach einer Zeit verwandelt er sich in einen Schauer, der uns unterzustehen zwingt. Wir sind gerade auf der Höhe eines alten Herrschaftssitzes, der von einer Mauer umgeben ist, mit Türmchen und Schießscharten, die die Erbauer — wohl im frühen 18. Jahrhundert — nicht mehr ganz ernst gemeint haben. Wir schlüpfen durch eine nach aussen führende kleine Pforte in ein solches Türmchen, warten und hören auf das Trommeln des Regens.
Ich spüre ein neues Gefühl in mir aufsteigen. Es ist kein leeres, ungeduldiges. Mein Warten hat sich verändert. Im Leben, das ich bisher geführt habe, füllte ich jede erzwungene Pause sofort mit einer anderen Tätigkeit. Mindestens griff ich zu etwas Lesbarem. Man tut doch nicht einfach nichts. Hier stehen wir nun in einem kahlen Raum, zwischen rohen Mauern auf einem gestampften Erdboden, und es gibt nichts zu tun, als auf das Rauschen des Regens zu lauschen und in Abständen durch die Latten, die die kleinen Fenster versperren, hinauszuschauen. »Spürst du dich noch?« fragen uns manchmal die Alternativen. Ja, ich spüre mich ganz deutlich, wie ich hier stehe und warte, und eine große erfüllende Ruhe durchströmt mich. Die Wiedererlernung des Wartenkönnens.
Nach einer halben Stunde wird es heller, und der Regen setzt aus. Wir gehen weiter, wechseln nun doch auf den Wanderweg hinüber und wandern weiter durch die hügelige Landschaft, die wir seit Tagen kennen. Staffeln von grauen Wolken ziehen von Westen über uns hin. Manchmal dringt die Sonne durch, dann verschwindet sie wieder hinter einer Wolkenbank.
Am Rande eines Rebberges begegnen wir einem älteren Bauern und knüpfen ein kleines Gespräch an. Er ist erfreut, als er hört, daß wir aus der Schweiz kommen. Als junger Mann ist er durch dieses Land aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. Er erinnert sich noch gut an die Schweizer Schokolade und an das Weizenbrot, das er dort nach langer Zeit zum ersten Mal wieder zu essen bekam. Die Schweiz als das Land der Schokolade und der weißen Brote? Aber Frauen und Kinder haben sie den geschwächten Kriegsgefangenen von sich aus an die Bahnwagen gebracht. Das ist schon besser.
Nach dem Städtchen Manciet folgen wir einer Landstraße, die im letzten Jahrhundert schnurgerade durch die Landschaft gezogen wurde, ohne Rücksicht auf die Hügel und Täler, die sie schneidet. Es geht schnurgerade aufwärts, in den
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