Santiago, Santiago
ohne Ausnahme niedrig. Aus der Ferne gesehen, bilden ihre Dächer fast eine einzige Linie. Darüber hinaus wächst aber gewaltig eine Kathedrale mit langgestrecktem Schiff und unvollendetem gotischem Turm. So muß die Stadt schon im Mittelalter ausgesehen haben.
Die Sicht des Ziels hilft uns, die Hitze des frühen Nachmittags auszuhalten, auch den letzten Graben zu überwinden und den Aufstieg zur alten Stadtbefestigung zu bewältigen. Wir haben Glück. Obwohl wir durch ein Seitentor in die Stadt gelangen, stoßen wir auf einen Gasthof, der in einem Barockpalais aus dem 17. Jahrhundert eingerichtet ist. Er heißt »Zum Bastarden«, ein stolzer Name, wenn man ihn richtig liest.
Die Stadt selber ist lebendig, ein lokales Zentrum von Handel und Gewerbe. Viele Häuser sind geschmackvoll renoviert. Die Kirche hält, was sie aus der Distanz verspricht. Sie ist aus glänzendem, hellem Kalkstein gebaut. Das breite Mittelschiff war nicht nur dazu bestimmt, große Zahlen von Pilgern aufzunehmen, sondern auch die Gemeinde zur Predigt zu versammeln. Es ist ein Werk des 15. Jahrhunderts, und man meint, hier schon etwas von jenem Geiste zu vernehmen, der wenige Jahrzehnte später zum Kalvinismus führte: klare Strukturen, konsequent entwickelt, vom Selbstbewußtsein der Urheber ebenso wie von ihren Auftraggebern zeugend, die Haltung von Menschen, die sich bald einmal zutrauen werden, Gott aus eigener Kraft und ohne Vermittlung zu suchen. Zugleich fehlt diesen weiten und hohen Kirchen aber auch die vielschichtige Spiritualität ihrer romanischen Schwestern, deren Intimität und Menschlichkeit. Sie sind rationaler und kühler geworden.
Erste Gehbeschwerden
20. Tag: Von Lectoure nach Condom
Der Tag beginnt mit dem Abstieg ins dunkle, neblige Tal. Hier fließt in feuchten Auenwäldern das Flüßlein Gers, das dem Département den Namen gibt. Dann steigen wir bei anbrechendem Tag durch Maisfelder und Rebberge auf. Etwas abseits vom Weg steht ein geheimnisvolles, zerfallendes Landhaus. Trotz seines traurigen Zustandes klingt ein Hauch von Noblesse nach. Es sind die Formen des 17. Jahrhunderts, Mansardendächer, hohe Fenster, eine symmetrische Fassade. Hier könnte der große Meaulnes seiner Yvonne begegnet sein.
Dann taucht der Weg in ein untiefes, schattiges Waldtal. Ein niedriges Blätterdach deckt ihn. Hinter einem Mäuerchen ist eine Quelle aufgestaut und bildet ein Becken voll klaren Wassers. Die Zweige der Bäume, die es decken, spiegeln sich darin. Der große Meaulnes könnte sich darin betrachtet haben.
Dann geht es wieder durch fruchtbare Felder. Im Dorf Marsolan suchen wir den Schatten der alten Kirche. Ihr Inneres ist bescheiden, fast ein wenig schäbig, aber sie lebt. Ich könnte schwören, daß hier ein älterer Priester wirkt, der im Dorf beliebt ist. Vielgebrauchte Gesangbücher liegen auf den Bänken. Der Beichtstuhl trägt ein Emailschild: »Monsieur le Curé«. Die dörfliche Hierarchie scheint noch intakt.
An der Rückwand der Kirche steht auf einem hölzernem Podest eine Jeanne d’Arc mit gefalteten Händen, in den Armen die französische Flagge: 1916 geschaffen, würde ich schätzen. An der Wand hängen einfache Auszeichnungen von Soldaten des Ersten Weltkrieges, die einen gerahmt, die andern nur mit einem Nagel befestigt. Ein einziges Wort steht dabei: »Reconnaissance«, oder »Souvenir«. »Reconnaissance«, das ist die Dankbarkeit des Soldaten, der heimgekehrt ist, »Souvenir«, die Erinnerung der Angehörigen, deren Vater oder Bruder an der Marne oder in Lothringen begraben liegt.
Es folgt ein langes Wegstück, das einer sonnigen Talflanke folgt, immer geradeaus. Von Zeit zu Zeit kommen wir durch ein Dorf oder einen Weiler mit freundlichen Bewohnern. Über uns wölbt sich ein blauer Himmel mit weißen Wölken.
Dann kompliziert sich der Weg, wir täuschen uns bezüglich der Richtungen, wissen nicht mehr weiter und müssen bei einem Schlößchen fragen. Der Hausherr selbst hilft uns, und nach einigem Auf und Ab kommen wir endlich auf die Hauptstraße, die nach Condom hineinführt. Auf ihrem Asphalt absolvieren wir die letzten fünf Kilometer des Tages.
Das Bild ist eindrücklich. Die Straße führt über eine Talsenke geradewegs auf die Kathedrale zu, einen mächtigen, spätgotischen Bau mit festungsartigem Turm, der durch Strebepfeiler sehnig gefurcht ist. Zu seinen Füßen dehnen sich die niedrigen Häuser der mittelalterlichen Stadt.
Mich beginnt eine Fußsehne zu schmerzen. Aber die Nähe des Ziels
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