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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Aebli
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Städtchen lebt.
Es gibt eine lokale Theatervereinigung. Unsere Ruhepause wird uns erlauben, einer Aufführung beizuwohnen. Es geht da nicht anders zu, als wenn im Emmental Theater gespielt wird, mit dem einzigen Unterschied, daß die Laienschauspieler hier ihren Gascogner Akzent zurückzudrängen und in der Sprache der Comédie française zu sprechen versuchen. Ihre Emmentaler Kollegen haben es da besser. Sie erlauben es sich, zu reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Der kulturelle Zentralismus der großen Nationen Europas hat seine Probleme.
Wir verbringen gute Tage in Yolandas Herberge. Der Zwischenfall mit meiner Schienbeinsehne hätte an keinem besseren Orte passieren können. Unter den Kastanien zeichne ich vom Liegestuhl aus die dunkelblau schillernden Pfauen, die Gänse mit ihren eleganten schlanken Hälsen, flaumige Hühner- und Entenkücken und flamboyante Hähne, die noch uneingeschränkt über ihren Harem herrschen.
Unser Verhältnis zu den Wirtsleuten wandelt sich rasch zur Freundschaft. Wir werden mit ihnen zu den Nachbarn eingeladen und müssen den lokalen Armagnac und andere gute Säfte probieren. Doch schließlich nimmt auch dieses Idyll sein Ende. Es gilt, Abschied zu nehmen. Verena und Yolanda müssen ein wenig weinen, und wie ich das sehe, kommt auch mir das Augenwasser.
     

Neubeginn und Nachdenken übers Auswendiglernen
22. Tag: Von Montréal nach Eauze.
 
Wir beginnen mit einer bequemen Etappe, die in etwa vier Stunden zu bewältigen ist. Es geht über niedrige Hügel, schon fast auf Meereshöhe. Gleich jenseits des ersten Hügels wird eine große römische Villa ausgegraben, die auch nach der Ankunft der Germanen weiter bewohnt wurde. Der Eindruck einer großen kulturellen Kontinuität ist in Südfrankreich allgemein. Am Wege entdecken wir eine ummauerte Quelle. Die Wasserstube ist von einem Mauerbogen überdacht, das genau gleich wie ein romanisches Kirchengewölbe konstruiert ist. Die Bauform hat sich in den letzten 900 Jahren nicht verändert.
Nach etwa zwei Stunden kommt uns zum Bewußtsein, daß wir uns im Lande der Armagnaken befinden, nicht wegen des Armagnac, der aus dem hiesigen Wein destilliert wird, sondern wegen eines imposanten Wehrturmes am Weg. Der Turm von Lamothe steht auf einer Anhöhe und ist wohl etwa 30 Meter hoch, ein Wachtturm der Armagnaken, erbaut im 13. Jahrhundert und umkämpft im Hundertjährigen Krieg. Als dieser seinem Ende entgegenging, tauchten die Armagnaken als zuchtlos gewordene Söldner im Elsaß und am Rande der Eidgenossenschaft auf. Von daher kennen wir sie. Eine einfache Kirche mit Glockenmauer und hölzernem Vorbau steht in der Nähe des Turmes, daneben liegt ein alter, ummauerter Friedhof.
Unterhalb des Turmes von Lamothe wartet unser ein neues Erlebnis. Wir folgen über eine lange Strecke einer aufgehobenen Bahnlinie. Die Schienen sind entfernt worden, aber man geht noch auf der alten Bahnunterlage. Da und dort quert eine alte Schwelle den Weg. Links und rechts folgt ein mit Schlingpflanzen durchsetzter Waldstreifen der alten Bahntrasse. Sie verläuft fast waagerecht, einmal auf einem Damm, dann wieder in einen Hügel eingeschnitten, mit Eisenbrücken und roten Backsteinkonstruktionen: Ingenieurskunst des 19. Jahrhunderts. Die alten Bahnhöflein sind Einfamilienhäuser geworden, nur die stillestehende Bahnhofsuhr und die Anschrift der kleinen danebenstehenden Häuschen (»Messieurs«, »Dames«) verrät etwas von der ursprünglichen Bestimmung.
Auf einem so guten Weg können wir die Wegstunde gut zu 4,8 km rechnen. Warum diese Zahl? So stand’s im Rechenbüchlein geschrieben, in dem ich vor mehr als einem halben Jahrhundert gelernt habe. Wie »bildend« die Aufgaben waren, weiß ich nicht. Aber ich mußte damals die Länge einer Wegstunde auswendig lernen, und darum wird mir heute bewußt, daß dies genau drei Meilen zu 1,6 km sind. Eine Meile sind 1000 Doppelschritte von 1,60 m, eine Wegstunde also 6000 einfache Schritte, das macht auf 10 Minuten je 1000 Schritte.

Wie kurzsichtig ist doch das Schnöden gewisser Pädagogen über das Auswendiglernen! Was mir da zum Bewußtsein gekommen ist, wäre nicht möglich gewesen, wenn ich die Zahl 4,8 km für die Wegstunde nicht hätte auswendig lernen müssen. Natürlich hat die Zahl an sich keinen Wert. Aber man muß sie kennen, um sie zu anderen in Beziehung setzen zu können, und dann wird’s interessant — und »bildend«.
Zum Exempel: Auf dem gleichen Wegstück treffen wir ein Haus an, das

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