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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Aebli
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Galizien wiederfinden.
Dann geht es durch einen dichten grünen Wald und schließlich über einen breiten Bergrücken ins weite Adourtal hinunter. Das Wetter ist wieder wechselhaft, Aufhellungen und kleine Schauer wechseln in rascher Folge, und es weht ein ziemlich starker Wind: die Nähe des Atlantik.
Der Adour ist ein mächtiger Gebirgsstrom, der ähnlich wie die Garonne aus den Pyrenäen im großen Bogen dem Atlantik zufließt. Sein Talgrund ist bei Aire mehrere Kilometer breit und topfeben, mit riesigen Mais- und Getreidefeldern. In dieser Ebene endet die heutige Tagesetappe. Dank unserer Routenwahl sind wir zwar leicht unter die 30 Kilometer gekommen, aber jetzt, gegen das Ende hin, beginnen wir sie doch zu zählen.
Eine halbe Stunde vor dem Ziel kommen wir durch Barcelonne-du-Gers, eine großzügige Bastide des 14. Jahrhunderts mit immensem Hauptplatz. Da halten wir in einem kleinen Café zum letzten Mal Rast — und machen die lustigste Erfahrung unserer langen Fußreise. Ich falle wieder einmal meiner Neugier zum Opfer. Während Verena ihren Tee genießt und ich mein Bier trinke, fällt mir nämlich an der Wand der kleinen Gaststube eine hölzerne Tafel auf. Sie trägt den folgenden Text:
 
EN CAS D’INCENDIE
TOURNEZ CETTE PANCARTE
 
Ich kann mich nicht enthalten, nachzusehen, was es mit dem Drehen der Tafel auf sich hat, stehe auf und wende sie. Wie ich mich umdrehe, merke ich, daß sich die Stammgäste des Lokals diskret zuzwinkern. Es heißt auf der Rückseite nämlich:
 
EN CAS D’INCENDIE
SEULEMENT, IMBECILE
 
In freier, deutscher Übersetzung:
 
BEI BRANDAUSBRUCH:
DREHEN SIE DIESE TAFEL
 
und:
 
NUR BEI BRANDAUSBRUCH,
DUMMKOPF
 
Der Zwischenfall erheitert auch uns, und wir finden, Aimerics Beschreibung der Gascogner treffe auch nach 850 Jahren noch zu:
»Gasconi sunt levilogi,... derisores...«
»Die Gascogner haben ein loses Maul,... und sind Spötter.«
Wir nehmen das letzte Wegstück guten Muts in Angriff. Um vier Uhr sind wir im Hotel Adour am Ufer des Adour in Aire-sur l’Adour, in Dur-Stimmung, natürlich.
     

Aire-sur-L’Adour: Kelten, Römer, Westgoten
 
Aire-sur-l’Adour ist eine sympathische und attraktive Stadt. Das Hotel, in dem wir untergebracht sind, ist erst vor kurzem eröffnet worden. Es ist ein Familienbetrieb, in dem die alte und die junge Generation am gleichen Strick ziehen und den Gästen den Aufenthalt angenehm machen. Wir schätzen die Mischung von Modernität und Menschlichkeit. Allzuoft geht mit Modernität ja kalte Unpersönlichkeit einher. Wir beschließen daher, hier noch einmal eine Ruhepause einzuschalten. Sie wird meiner Schienbeinsehne ebenso wie unseren historischen Interessen dienen.
Denn Aire ist auch eine Stadt der Westgoten. Die bewegte Geschichte dieses Volkes führt hier durch. Welche Wanderungen: von Norddeutschland ans Schwarze Meer, von dort über Italien nach Gallien, an den Pyrenäenfuß und schließlich nach Spanien, wo ihr Reich 711 von den Mauren zerstört wurde. Die letzten Reste des Germanenvolkes retteten sich in jenes Nordwestspanien, das wir durchwandern werden.
Etwas oberhalb der alten Stadt, über der Talebene des Adour, steht eine geheimnisvolle alte Kirche, bei deren Studium man schrittweise zu den Westgoten und über diese hinaus in die ältesten Schichten dieser Landschaft vordringt.
Vorerst fasziniert uns die Architekur. Man spürt, daß dieses Bauwerk eine bewegte Geschichte hat: festungsartige Elemente, ein achteckiger Turm, romanische und gotische Formen, ein verstümmeltes Figurenportal. Das letztere haben die Soldaten des schottischen Hauptmanns Montgomery im 16. Jahrhundert zerstört, in jenen Glaubenskriegen, die auf beiden Seiten mit unvorstellbarer Grausamkeit geführt wurden.
In der Kirche selber stößt man auf einen erstaunlichen Marmorsarkophag aus dem 4. Jahrhundert. Die Formen der Reliefs sind römisch-antik, aber die Szenen christlich. Hier sollen die Reste der heiligen Quitterie ruhen, der die Kirche geweiht ist. Sie ist von den Arianern verfolgt und enthauptet worden.
Warum von den Arianern? Hier treten die Wisigoten (so heißen sie eigentlich) wieder ins Spiel. Sie waren zur Zeit, da sie noch nördlich der Pyrenäen lebten, Arianer, herrschten aber über eine gallo-römische Bevölkerung, die seit dem Ende des 1. Jahrhunderts christlich im katholischen Sinne des Wortes war. Das Martyrium der heiligen Quitterie spielte sich in diesem Kontext ab. Sie soll nach ihrer Enthauptung noch bis zum Standort dieser Kirche

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