Santiago, Santiago
ab und führt in ein Tal hinauf. Wir nähern uns einem einsamen Weiler, in dem nun nichts mehr von ländlicher Romantik, sondern alles von tiefer Armut und Verlassenheit zeugt. Die zerbeulte Ortstafel nennt seinen Namen: Linzoain. Fast alle Häuser sind einstöckig, es gibt keinen Laden und kein öffentliches Gebäude. Die Dorfstraße ist nichts als ein breiter Feldweg. Wir begegnen keinem Erwachsenen, nur einigen Kindern. Über einer Haustür ist ein rohes Brettchen angenagelt. Mit weißer Farbe ist in ungelenker Schrift »Bar« darauf gemalt: die Gaststätte von Linzoain.
Beim letzten Haus setzt sich die Erdstraße als Fußweg fort. Zuerst steigt er als ausgewaschene Rinne auf, in die von unten schiefrige Gesteinsbänder hineinragen, doch dann geht er eben fort und wird freundlicher.
Wir kommen in einen schattigen Wald von Eichen, Buchen und Föhren. Das Wetter hat sich aufgehellt, immer wieder dringt die Sonne durch das Laubdach und zeichnet helle Flecken auf den Waldboden. Links blicken wir in ein grünes Tal hinunter, rechts steigen die Berge auf. Der Weg folgt dem Abhang als liebliche Bahn, fast ohne einen Stein, wie von vielen tausend Pilgerschuhen geebnet. Licht und Schatten wechseln in regelmäßigem Abstand. Die Beunruhigung des gestrigen Tages ist verflogen. Wir wandern entspannt und fast ohne Anstrengung, eilen nicht und kommen doch vorwärts. Wir sind mit uns und der Landschaft im Gleichgewicht.
Dann beginnt der Weg abzufallen. Wir kommen aus dem Wald heraus und blicken in ein Tal, hinter dem die Berge noch einmal aufsteigen. Am Fluß unten liegt ein kleines altes Städtchen. Es geht vorerst durch Weiden abwärts, dann auf rutschigem Wege durch ein wilder werdendes Gelände mit Gestrüpp und Bachschutt. Unten kommen wir bei zwei alten, schwarzen Häusern zu einer romanischen Brücke, die ins Städtchen führt.
Der Río Arga — wir werden ihm noch lange folgen — ist hier noch ein kleiner Gebirgsfluß. Das Städtchen heißt »Zubiri«, das ist baskisch für »Zur Brücke«. Wir sind am Ziel der heutigen Etappe.
Einen Gasthof oder ein Hotel gibt es in Zubiri nicht. Es ist daher nicht ganz einfach, eine Unterkunft für die Nacht zu finden. Am Rande des Städtchens, wo einige moderne Wohnhäuser entstanden sind, weist man uns auf eine Bäckersfrau hin, die Rat wisse. Doch wir klingeln vergeblich an ihrer Ladentür. Wir sind in Spanien, wo das Geschäftsleben zur Zeit der Siesta ruht. Im Restaurant an der Hauptstraße haben wir mehr Glück: Wir sollen bei Carlos fragen, dort, wo das Schild »Tabacos« über der Haustür hänge.
Wir finden die staatliche Tabakverkaufsstelle, welche Carlos betreibt. Das Ladenlokal ist allerdings verdunkelt, und Carlos sitzt nebenan vor dem Fernseher. Um diese Zeit kommt niemand Zigarretten kaufen. Er ist ein zurückhaltender Mann mittleren Alters, der seinen Posten wahrscheinlich aufgrund irgendwelcher staatlicher Verdienste zugeteilt erhalten hat, kein Handelsmann, sondern ein ordentlicher Beamter. Er hat im zweiten Stock seines Hauses ein sauberes Zimmer, das er uns gerne und zu billigem Preise für eine Nacht überläßt.
Das Herz von Navarra
34. Tag: Von Zubiri nach Pamplona
Heute ist der Weg nicht zu verfehlen. Wir folgen dem Fluß Arga knapp 20 Kilometer abwärts bis nach Pamplona. Die Autostraße verläuft auf der rechten Talseite. Aber der alte Talweg jenseits des Flusses ist erhalten, und er wird noch begangen. Das ist unser Glück.
Zwar geht es zuerst an einer großen Zementfabrik vorbei, die den Weg zerstört hat. Wir finden ihn jenseits wieder, und nun hat er wiederum seinen »mittelalterlichen Geschmack«, wie unser spanischer Wanderführer zu sagen pflegt.
Die Landschaft verändert sich. Sie verliert allmählich ihren grünen, mitteleuropäischen Charakter und wird spanischer. Die Pyrenäen bilden nur noch eine blaue Silhouette im Ausschnitt des Tales hinter uns. Auf dieser Seite herrschen noch die Farben des Waldes vor. Vor uns liegen aber kahle Hügel mit braunen und ockerfarbenen Feldern. Im Tal unten wechseln trockene, abgeerntete Getreideäcker mit üppig grünen, bewässerten Wiesen und Gemüsefeldern. Der Weg ist staubiger geworden, trockene Grasbüschel entfalten ihre feinen Fächer. Am Wegrand entdecken wir die ersten Disteln. Wir kommen an malerischen alten Bauernhöfen vorbei, mit den runden baskischen Torbogen, die so fein wie die romanischen Bogen alter Kirchen gehauen und gesetzt sind. Die römischen Ziegel und die Reben an den Hauswänden
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