Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Aebli
Vom Netzwerk:
propria manu celum posse palpitari.«
 
»Der Berg ist nämlich so hoch, daß er zum Himmel zu reichen scheint, und wer ihn besteigt, meint diesen mit der Hand berühren zu können.«
 
Wir sind da nicht so ängstlich, aber nach Roncesvalles sind es immerhin etwa 25 Kilometer, und wir wissen nicht, ob wir dort unterkommen. Darum beschließen wir, wenn auch nicht ganz guten Gewissens, mit einem Taxi bis auf etwa 650 Meter Meereshöhe hinaufzufahren und uns damit zugleich 5 Kilometer zu ersparen. Es wird sich zeigen, daß wir gut daran getan haben.
     

Gegenwind über den Pyrenäen, Windstille über Roncesvalles
32. Tag: Von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Burgete
 
So wie das Reußtal den Nordabhang der Alpen senkrecht durchschneidet und zum Gotthardpaß hinaufführt, durchschneidet das Tal von Valcarlos den Nordabhang der Pyrenäen und führt zum Col de Cize, dem spanischen »Puerto de Ibañeta«, hinauf. In historischer Zeit fürchteten die Menschen jedoch die Steinschläge und Lawinen dieses engen Tales, und sie wählten lieber den längeren und beschwerlicheren Weg über den Bergrücken, der das Valcarlos im Osten begleitet. Schon die Römerstraße führte da hinüber, die mittelalterlichen Pilger folgten diesem Weg, und noch im letzten Jahrhundert bauten Napoleons Ingenieure diesen Weg zu einem Fahrsträßchen aus. Es heißt darum heute noch »Route Napoléon«.
Auf diesem Weg führt uns der Taxifahrer, Besitzer seines eigenen Unternehmens, auf die Höhe von 650 Meter. Er ist ein lebhafter Baske, mit dem wir uns gut verstehen. Von Zeit zu Zeit fallen einige Regentropfen auf die Windschutzscheibe, und Windböen schütteln den Wagen. Unser Fahrer sagt lachend, heute wehe der Südwind, den sie hier »den Verrückten« nennen.
So lustig findet Verena die Situation nicht, wie wir allein auf der Bergstraße stehen. Die Täler liegen noch in der Morgendämmerung. Am Himmel ziehen zerfranste Wolkenbänder nach Norden. Dazwischen kein blauer Himmel, sondern ein fahles Licht.
Dann und wann dringt ein Bündel von bleichen Strahlen durch ein Wolkenloch und taucht ein Stück Berglandschaft in ein gespenstisches Helldunkel. Sollen wir sogleich umkehren? Ich finde, wir sollten einmal sehen, wie sich der Tag entwickelt.
Auf dem Bergrücken marschieren wir also gegen Süden. Es geht ganz allmählich aufwärts. Mit dem heraufziehenden Tag erkennen wir die Landschaft deutlicher. Es sind Weiden, die besten noch gepflegt, gemäht und in einem lebhaften Grün leuchtend, viele andere mit Farnkraut und niedrigem Gebüsch überwachsen. Große Schafherden suchen dazwischen das Gras. Sie sind sich selbst überlassen, brauchen keinen Hirten. Da und dort wächst eine große Esche oder eine Buche. Hier oben gibt es kaum Wald, auch wenig Felsen. Eigentlich sind es hohe, zum Teil steile Wiesenberge.
Nach einer Stunde sind wir etwa auf 1000 Meter Höhe. Der Wind ist stärker geworden. Von Zeit zu Zeit fallen Tropfen, aber es regnet noch nicht. Obwohl das Sträßchen kaum ansteigt, müssen wir einen beträchtlichen Widerstand überwinden: die Kraft des Windes, der uns pausenlos zurückdrängen will.
Links von uns steigen nun höhere Berge auf, wir folgen ihrer Westflanke. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Da und dort gibt es eine intakte Alphütte. Aus einer von ihnen steigt Rauch. Er wird vom Wind hart an der Kante des Kamins weggerissen. Ich sage nichts, aber ich denke, hier könnten wir notfalls Obdach finden. Die Straße führt für ein kurzes Stück in eine kleine, nach Norden gerichtete Talrinne hinein und beschreibt hier eine Kehre: ein kurzer Moment der Windstille und des Aufatmens.
Nach der nächsten Kehre sind wir wieder an der Westflanke des Berges, hoch über dem Tal von Valcarlos. Jetzt hat sich der Wind in einen ausgewachsenen Föhnsturm verwandelt. Mühsam setzen wir Schritt vor Schritt. Das Atmen ist schwierig, und das laute Sausen in den Ohren erzeugt einen Druck, der eher psychisch als physisch, deswegen aber nicht weniger real ist.
Aus dem Bergrücken ragen jetzt doch Felsenbuckel heraus. In einem von diesen entdecke ich eine steinbruchartige Nische, die etwas Windschutz bieten könnte. Wir steigen zu ihr auf und setzen uns darin nieder. Aber von Windstille ist hier keine Rede. Das Brotstück, das ich auf einen Stein zu legen versuche, wird sofort heruntergerissen und fällt zwischen die Steine. Das Sausen des Windes in den Felsen ist hier sogar noch unheimlicher als auf den offenen Weiden. Wir haben keine Lust zu

Weitere Kostenlose Bücher