Santiago, Santiago
indessen, eine ausgleichende Grundhaltung zu bewahren. Verena und Alain, beide friedlicher gestimmte Naturen, bleiben einige Schritte zurück.
Unser Gespräch dreht sich um religiöse Erfahrung, aber Dominique verbindet damit Werturteile über unsere beiden Konfessionen, denen ich nicht ohne weiteres beipflichten kann. Er erklärt, daß ihm die Messe und die auf die Wandlung hinführende Liturgie sehr viel bedeutet. Dieses spirituelle Erlebnis ist das Zentrum seiner Gotteserfahrung: Gotteserfahrung im Mysterium der Eucharistie. Die protestantische Kirche empfindet er als zu nüchtern und zu rational. Sie habe mit der Messe einen Erfahrungsschatz verloren, der sie sehr viel ärmer als die katholische Kirche gemacht habe.
Ich stimme dem teilweise zu, versuche jedoch klarzumachen, daß zu einem solchen Urteil derjenige kommen müsse, für den ein innerlich-spirituelles Erlebnis das Zentrum der religiösen Erfahrung sei. Der Protestantismus sei eine Religion aktiver, handelnder Menschen. Er versuche aber, genau dieses Handeln umzuformen, es auf das Ziel der Gestaltung einer Welt auszurichten, die im Einklang mit dem Willen ihres Schöpfers sei und in der sich eben dieses Handeln selbst von seinem Geist und seiner Ordnung durchdringen lasse. Protestantische Spiritualität realisiere sich also, wenn man diesen Ausdruck verwenden wolle, in der Welt, genauer gesagt, im Handeln des Menschen in der Welt.
Weiter versuche ich vermittelnd festzustellen, daß jede Form der Christlichkeit wohl ihre Chancen und ihre Gefahren habe. Die Protestanten anerkännten die Schätze katholischer Innerlichkeit und ihrer Mysterien, sie sähen aber auch, daß sich diese ihres Sinnes entleeren und ihre Handlungswirksamkeit einbüßen könnten. Umgekehrt liefen protestantischer Aktivismus und protestantische Tüchtigkeit ständig Gefahr, zu vergessen, wozu sie da seien. Aber die evangelische Welt habe auch Gemeinschaften und Gemeinden erzeugt, die in einem vorbildlichen Geiste der Nächstenliebe und einer humanen Sittlichkeit lebten.
So ereifern wir uns, ohne uns gegenseitig zu überzeugen. Im Dorfe Muruzábal müssen wir uns trennen, denn die beiden Männer werden an einer naheliegenden Straßenkreuzung von Alains Frau im Wagen erwartet. Bevor wir uns verabschieden, packt der Franzose seine Thermosflasche aus dem Rucksack und bietet Verena und mir von seinem warmen Getränk an. Die Gabe berührt uns tief, und wir nehmen herzlich Abschied. Im Weitergehen denke ich, die Handlung Dominiques verwirkliche etwas von dem, was der eine und der andere von uns gemeint habe. Für ihn hat die Gabe des Getränkes wohl eine quasi eucharistische Bedeutung. Für Verena und mich ist sie eine gemeinschaftstiftende Handlung im Geist jener Liebe, von der im ersten Korintherbrief die Rede ist.
Im freundlichen Städtchen Obanos machen wir Mittagspause. Wie wir auf einer Bank unsere Brote verzehren, nähert sich uns eine lebhafte Musik von schalmeienartigen Instrumenten, begleitet von einer Trommel. Ein kleiner Umzug biegt um die Ecke. In seiner Mitte bewegen sich zwei große, etwa vier Meter hohe Puppen, ein König und eine Königin. Sie drehen und wiegen sich im Takt der Musik. Kinder laufen an ihrer Seite. Die Musiker tragen weiße Hemden, rote Halstücher und Baskenmützen. Familien folgen dem Umzug, andere stehen am Straßenrand und applaudieren. Alle hundert Meter muß der Zug anhalten, und die Männer, die die Puppen tragen, treten schweißgebadet und schwer atmend darunter hervor. Eine fröhliche Stimmung ist in der Luft, und wir vernehmen, daß an diesem Wochenende Dorffest in Muruzábal ist. Wir hätten Lust, dabei zu sein, aber es geht nicht. Wir müssen nach Puente la Reina weiter, damit die morgige Etappe nicht allzu lang und beschwerlich wird. Und Puente la Reina zieht uns natürlich auch an, denn es ist eine der klassischen Stationen auf dem Camino.
Es sind nur noch wenige Kilometer bis dorthin, aber inzwischen hat uns die Mittagshitze eingeholt, und die Asphaltstraße ist hart. Wir sind froh, daß wir schon am Rande der Stadt Unterkunft finden.
Die Königin von Navarra hatte ihre Gründe, als sie an diesem Ort eine Brücke bauen ließ. Wir wissen aus eigener Anschauung, woher der Río Arga kommt: nicht aus einem sanften Hügelland, sondern aus einem Gebirge mit heftigen Gewittern und einer gefährlichen Schneeschmelze. Wenn der Fluß als braun-gelbe Flut daherkommt und ganze weggerissene Bäume darin treiben, gibt es kein Übersetzen zu Fuß. Im Netz
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