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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Aebli
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Königin«.
An Sonntagen fährt der erste Bus um sieben Uhr aus Pamplona hinaus. Wir sind unter den fünf ersten schweigsamen Fahrgästen. Es ist noch dunkel draußen. Bei der Universität steigen wir aus und suchen die gelben Wegzeichen des Camino de Santiago. Vorerst geht es durch Dörfer, in denen die erfolgreicheren Pamploner ihre Einfamilienhäuser bauen, aber dann führt das Erdsträßchen in die Ebene hinaus.
Die Sonne geht in einem riesigen Lichthof über dem Dunst der dämmrigen Ebene auf. Goldenes Licht sinkt Schritt für Schritt von den Bergen zu uns herab. Der Himmel über uns ist schon wolkenlos blau. Am Horizont geht er in ein leuchtendes Gelb über.
Die Ebene steigt ganz allmählich gegen den Gebirgszug auf. Wir kommen durch das Dorf Guendulain. In seinen stattlichen Häusern regt sich das erste Leben des Sonntagmorgens. Wie wir höher steigen, beginnen wir die Landschaft zu überblicken. Die Äcker am Berghang sind nicht mehr geometrisch geformt, sondern dem Gelände angepaßt. Die parallelen Linien der Furchen erzeugen natürliche Muster, die die Formen des Geländes wiederholen und betonen.
Die Kirche des Nachbardorfes steht auf einem Felsensporn. Sie ist aus dem braunen Stein der Sierra gebaut. Mit ihrem massiven Turm und ihren Stützmauern wirkt sie wie eine Festung. Sie erinnert uns daran, daß das Königreich Navarra einmal im Kampfe gegen die Mauren stand und daß es die Ebene von Pamplona gegen sie sichern mußte.
Ein überraschender Fund beim Weiler Zariquiegui gibt unseren Gedanken eine neue Richtung. Am Wegrand liegt eine weggeworfene, leere Zigarrenschachtel: Rößli-Stumpen. Gibt es stumpenrauchende Pilger? Nehmen sich die Schweizer das Recht, ihre Stumpen auch auf die Pilgerfahrt mitzunehmen? Noch ernster: Werfen Schweizer Pilger leere Stumpenschachteln einfach an den Wegrand? Die ordentlichen Schweizer?
Eine Begegnung, wenig später, eröffnet eine neue Hypothese, die unser nationales Gewissen ein wenig zu beruhigen verspricht: eine Gruppe von baskischen Jägern steht über dem Wege und hält nach Rebhühnern Ausschau. Gemäß unserer heimatlichen Erfahrung kämen Jäger als Rößlistumpenraucher sehr wohl in Frage. Wir grüßen sie doppelt freundlich und knüpfen ein Gespräch an. Unter dem Vorwand meiner Unterrichtung über ihre Jagdobjekte nehme ich jeden einzelnen in Augenschein. Aber keiner hat einen Rößlistumpen im Mundwinkel, und ich wage sie nun doch nicht zu fragen, ob einer von ihnen etwa Schweizer Stumpen rauche. Das Rätsel der Rößlistumpen von Zariquiegui bleibt ungelöst.
Wir wandern lange am Hang der Bergkette schräg aufwärts, einem Sattel zu. Auf der Krete oben eröffnet sich uns ein neuer Ausblick. Weit im Süden erahnen wir das Tal des Ebro. Allerdings liegt davor eine weitere Bergkette und, noch einmal näher, das Tal von Puente la Reina. Von dort zieht sich ein vielfältig gegliederter breiter Abhang mit gemusterten Äckern und grünen Waldflecken zu unserer Höhe hinauf. Zahlreiche Dörfer sind darauf hingestreut. Eine große Schafherde zieht über die abgeernteten Felder.
Hinter uns liegt die Ebene von Pamplona, nunmehr im Lichte des Sonntagmorgens. Die Hochhäuser der Stadt sind noch deutlich erkennbar. Dahinter erstrecken sich die Vorberge der Pyrenäen weit von Westen nach Osten. Wir werden sie nun endgültig hinter uns lassen.
Es geht auf rutschigen Wegen zwischen Hecken und Niederholz abwärts. Da sitzen am Wegrand zwei Männer mittleren Alters, der eine hager, der andere rundlicher, beide in Shorts, mit kleinen Rucksäcken. Es sind die ersten Pilger, seit wir uns in Figeac von Stéphane und Béatrice verabschiedet haben. Wir halten an und schließen Bekanntschaft. Der Hagere heißt Dominique. An einem Lederband trägt er ein schönes, großes Kreuz um den Hals. Er war im Begriff, seinem Kameraden Alain einen Text aus der Bibel vorzulesen. Dieser ist Belgier, ein Jurist und Manager im Ruhestand. Seine Frau folgt den beiden im Wagen auf der Landstraße. Sie wollen wie wir nach Santiago.
Wir wandern gemeinsam weiter und lernen uns kennen. Dominique ist Junggeselle. Er ist naturalisierter Franzose, in Rußland aufgewachsen, Sohn eines überzeugten Kommunisten, der dorthin ausgewandert war. In Frankreich ist er vom Atheismus zum Katholizismus konvertiert. Nachdem wir eine Zeitlang zu viert marschiert sind, polariseren sich unsere Naturen. Der scharf argumentierende und kämpferisch veranlagte Dominique weckt in mir protestantische Abwehrreflexe. Ich versuche

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