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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Aebli
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etwas großzügiger, als man es von uns ordentlichen Alemannen zu erwarten pflegt, und sind rasch drüben.
Jenseits, auf der Höhe, geht es nun lange auf einem kleinen Sträßchen nach Westen, manchmal auch nur auf einem Feldweg. Es ist weiterhin die mittelalterliche Straße, der wir folgen. Das erkennen wir an den alten Brücken, die die kleinen Flüsse überqueren. Was uns aber die aufkommende Hitze vergessen läßt, ist die römische Straßenpflästerung, die auf weite Strecken wieder hervortritt. Sie führt von der Nordwestecke Spaniens bis nach Frankreich und ans Mittelmeer.
In der Einsamkeit unseres Wanderns sind wir an jedem Mitwanderer interessiert. Heute sieht es nach einer ungewöhnlichen Bekanntschaft aus. Vor uns entdecken wir nämlich eine bunte Gestalt, die auf einem Esel reitet. Ich überlege mir schon, ob ich den Pilger auf französisch oder auf deutsch ansprechen soll. Wir beschleunigen den Schritt und holen den Reiter allmählich ein.
Ich brauche kein Französisch und kein Deutsch. Es ist eine Reiterin, eine kleine, schmächtige Zigeunerin von unbestimmbarem Alter, vielleicht vierzig, vielleicht auch sechzig Jahre, mit dunklem, lederfarbenem Gesicht und eingefallenem Mund. Sie sitzt seitwärts und gebückt auf einem armen, mageren Esel. Vor sich hat sie ein Bündel und einen Plastikeimer am Sattelknauf befestigt, in der Hand hält sie einen kurzen Stock. Die Erscheinung ist so fremdartig und so elend, daß ich nicht die Stärke habe, sie auf spanisch zu grüßen und anzureden. Auch sie grüßt uns nicht. Vielleicht fürchte ich auch, angebettelt zu werden. Wir gehen an ihr vorbei.
Wir haben die Frau im Verlaufe des Tages noch mehrmals gesehen. Einmal ritt sie am Rande der Autostraße, während unser Weg einige zwanzig Meter daneben verlief. Sie redete laut, wir wußten nicht, ob sie Selbstgespräche führte oder mit dem Esel schimpfte. Jedenfalls schlug sie ständig hinter sich auf die Seite des Tieres, um es zum schnelleren Gehen anzutreiben. Etwas später sahen wir sie in einem Dorf bei einer Frau stehen. Wir hatten den Eindruck, sie bekomme etwas geschenkt. Mehr wissen wir nicht von ihr.
Uns ist auch unklar, ob wir die arme Frau bedauern oder ob wir uns über die lieblose Behandlung des Tieres durch sie entrüsten sollten. Eines ist sicher: wir sind im Lande des Stierkampfes, und unsere Vorstellungen über Tierschutz gelten hier nur beschränkt, insbesondere auch bei einer zigeunerischen Subkultur innerhalb der spanischen Welt. Wir halten daher mit unseren moralischen Urteilen zurück.
Der Tag wird sehr heiß. Wir befinden uns jetzt zwischen dem Tal des Río Arga und demjenigen des Ega, an dem Estella liegt. Das Land ist trocken. Der Weizen ist längst abgeerntet. Zurückgeblieben sind die Stoppelfelder. Am Wegrand wachsen alle Arten von Disteln, blaue und gelb leuchtende, und viele Arten von trockenen Gräsern. In der Ferne erheben sich einige hohe, bewaldete Berge. Davor aber senkt sich das Land nun allmählich gegen den Fluß Ega. In den Dörfern herrschen die gelben und braunen Farben vor. Auch die Kirchen haben die gleiche Farbe.
Es geht entschieden abwärts, und das Tal wird grüner. Zugleich verengt es sich, und dann führt uns die gelbe Wegmarkierung auf die Hauptstraße, die nach Estella hineinführt. Die Häuser werden städtischer. Am nahen Fluß sind hier im letzten Jahrhundert kleine Fabriken entstanden, wahrscheinlich Spinnereien, vielleicht Webereien.
Es ist nun die heißeste Zeit des Tages, der dunkle Asphalt siedet, und die schweren Laster brausen rücksichtslos nahe an uns vorbei. Wir haben die verbleibende Distanz falsch geschätzt. Der städtische Charakter der Häuser verleitete uns zur Meinung, wir seien nahe am Ziel. Doch es will und will nicht kommen. Streckenweise versuchen wir im Schatten der alten Fabrikgebäude zu gehen, dann auf einer Straße armer Leute, die hinter den Fabrikfronten verläuft. Hier drückt uns nicht nur die Hitze, sondern auch die Trostlosigkeit ihrer Armut nieder.
Also zurück auf die Hauptstraße. Immer noch keine Stadt, nur Garagen und Autogewerbe. Unsere Kräfte, die psychischen und die physischen, nähern sich dem Nullpunkt. Endlich erkennen wir vor uns das ehemalige Stadttor. Eine lange, enge Gasse führt weiter geradeaus. Vorerst sind viele Häuser und Lokale unbewohnt und verwahrlost, dann belebt sich die Gasse, und schließlich sind wir in der Mitte der Altstadt. Am Ende einer Quergasse liegt die Plaza mayor mit ihren Arkaden. Wir kennen

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