Santiago, Santiago
auch die Adresse eines der wenigen Hotels von Estella und fragen uns erfolgreich durch. Es gibt Platz für uns, wenn auch der Komfort gering ist. Unsere Ansprüche sind auch nicht mehr hoch. Wir sind froh, uns den Staub und den Schweiß des Tages vom Leib spülen zu können.
Estella: Das Problem des Sühnopfers
Auf dem Abendspaziergang bestätigt sich, was der Pilgerführer verspricht: Estella ist eine bedeutende Station auf dem Jakobsweg. Die Könige von Navarra haben hier wie an vielen anderen Orten Nordspaniens im 11. Jahrhundert Franken von jenseits der Pyrenäen zum Siedeln ermuntert, und noch im 14. Jahrhundert wurde hier ebensoviel französisch wie spanisch gesprochen. Der älteste Stadtteil liegt jenseits des Flusses. Hier steht ein kleiner romanischer Königspalast mit Arkaden, und man steigt über eine lange Treppe zur Klosterkirche San Pedro de la Rúa auf.
Wir betrachten den intimen romanischen Kreuzgang und setzen uns dann eine Weile in die kühle Kirche. Es ist schon fast Tagundnachtgleiche, und von einem Turme schlägt es sechs Uhr. Die Sonne läßt die Rosette in der Westfront der Kirche aufleuchten. Ein heller Strahl trifft genau auf einen gotischen Crucifixus.
Zeit und Anlaß, über die Bedeutung des Todes Christi nachzudenken. Man sagt, sein Opfer stelle eine Tat der Liebe dar. Was heißt das? Einmal sicher, daß er Beleidigung, Bedrohung und unverdiente Strafe nicht mit Gegenaggression beantwortet, sondern ertragen hat. Man müßte dieses Tragen und Ertragen besser verstehen. Wir machen es uns teilweise klar, indem wir es menschlichem Ertragen von Leiden aus Liebe annähern, und wir haben Tendenz, es uns vor allem bei Frauen vorzustellen. Gibt es auch Männer, die solches tun? Wahrscheinlich, man spricht nur nicht darüber.
»... qui tollis peccata mundi...«, die Sünden der Welt tragen, das Böse, das uns andere zufügen, ertragen? Es aufnehmen und es in sich aufheben? War das die Tat Jesu? Ist dies der Kern der Toleranzidee?
Dann ist da natürlich auch die Idee des Sühnopfers. Sie ist viel schwieriger als diejenige des Nicht-Zurückschlagens. Dahinter steht eine Gottesidee, die mir wie vielen anderen große Probleme macht: ein Gott, der sich mit dem sündigen Menschen nur um den Preis eines Opfers versöhnen läßt, ein Gott auch, der ein stellvertretendes Opfer akzeptiert, und dies für eine Sünde, die nicht der Einzelne begangen hat, sondern die in seiner Geschichte geschehen ist. Es ist eine archaische Vorstellung. Kann sie in unserem modernen Denken einen Sinn gewinnen? Man könnte daran denken, vom Inhalt der göttlichen Forderung nach einem Opfer abzusehen und sagen, daß Christus getan hat, was nach damaliger, jüdischer Vorstellung notwendig war, um die Menschen mit Gott und Gott mit den Menschen zu versöhnen, die Kluft zu überbrücken. Das Notwendige tun? Es für die anderen tun? Für alle? Wir akzeptieren heute leicht, daß Jesus ein großer Lehrer gewesen ist. Aber es gibt die Lehrer, die einfach reden, und es gibt Lehrer, die für diejenigen, die ihnen anvertraut sind, etwas tun, auch wenn dieses Tun Opfer erfordert. Jesus als Lehrer, als der Lehrer, der für die Menschen, auch noch bevor sie sich ihm anvertraut hatten, das Notwendige, unter Schmerzen, getan hat?
Wir gehen nachdenklich in den Abend hinaus. Die Stadt hat noch viele interessante Gebäude, die meisten sind jedoch geschlossen, viele im Umbau und unzugänglich. Aber wir sind auch nicht als Touristen hier. So gehen wir zeitig zur Ruhe. Verena hört in der Nacht Schüsse aus Schnellfeuerwaffen und denkt, nun habe uns der baskische Terrorismus doch noch erreicht. Aber das ist nicht so sicher, denn es heißt am nächsten Morgen, die spanische Armee habe nur eine Nachtübung durchgeführt. Wir wissen natürlich nicht, ob man dies zur Beruhigung der ausländischen Gäste hier immer so sagt.
Unsere Wirtin, Frau Chavarri, erhält Besuch
37. Tag: Von Estella nach Arcos und nach Viana
Verena hat wegen der Schüsse nicht gut geschlafen, und ich beginne meine Schienbeinsehne wieder zu spüren. So beschließen wir, am Morgen mit dem Autobus 20 Kilometer weit zu fahren und dann einen Ruhetag einzuschalten. Wir vermeiden auf diese Weise auch etwa 10 Kilometer Marsch auf der Autostraße, die der Pilgerführer auf dem Weg nach Arcos anzeigt. Einen Ruhetag meinen wir auch verdient zu haben, denn wir sind nun seit zehn Tagen ohne Pause unterwegs. So finden wir uns am Morgen im Bahnhof von Estella ein, in dem zwar keine
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