Santiago, Santiago
wir auf etwa 1150 Meter hinauf. Wir überqueren ein tiefes Tobel, und dann geht es lange durch den Wald geradeaus. Die Bäume sind zwar nicht hoch, stehen aber dicht, und der Bergsattel ist flach und weit, so daß man die Landschaft nicht überblickt. Die Pilger haben in dieser Wildnis das Verirren und die Räuber gefürchtet.
Nach einigen Kilometern wechselt der Weg. Er mündet in eine etwa 30 Meter breite Waldschneise, die die Ausbreitung von Waldbränden verhindern und den Fahrzeugen der Feuerwehr die Bewegung erleichtern soll. Der Eingriff in die Landschaft ist zwar unzimperlich, aber wir verstehen seinen Sinn. Auf der nackten, rot-gelben Erde sprießen schon wieder einige Gräser.
Wir vertreiben uns die Zeit mit einem neuen Spiel: dem Spurenlesen. Wir beginnen nämlich unsere »Vorgänger« auf dem Weg zu kennen. Da ist der Freund mit den konzentrischen Kreisen in seinem Gummiabsatz, da die Frau mit der kleinen Fischgrätenmustersohle. Der Große mit den langen Schritten trägt Sportschuhe mit kugeligen Höckern, und hier sind die raschen Schritte des Kleinen mit der Vibramsohle. Und da, der Arme, er war wohl ziemlich müde, daß seine Schritte so kurz geworden sind.
- Hast Du den Freund mit den kleinen Dreiecken auch nicht mehr gesehen, Verena?
- Nein, auch nicht. Aber da sind ja die Spuren eines Barfußgängers, Hans. Den haben wohl die Schuhe gedrückt, und er hat sie ausgezogen. Wir müssen aufpassen, ob die kleinen Dreiecke wieder auftauchen, wenn die Spuren der nackten Füße verschwinden.
Harmlose, weltliche Pilgergedanken...
Dann senkt sich der Weg ein wenig, und er zweigt von der Schneise ab. Wir sehen jetzt über die Bäumen in eine unendliche Landschaft hinaus, in der nur noch wenige Hügel hervortreten. Dahinter Dunst: der erste Blick in die Meseta, die gewaltige Hochebene, die sich hinter den Montes de Oca dehnt.
Und dort ragt ganz klein aus den Bäumen eine Glockenmauer heraus. Sie muß zur Kirche von San Juan de Ortega gehören. Wir kommen aus dem Wald heraus, auf Weiden mit Hecken und Baumgruppen. Links vom alten Weg fließt ein Bach in einem flachen Tal, das sich in eine weite Mulde erstreckt. In ihrer Mitte liegt in Bäumen eine Siedlung von wenigen Häusern. Wie wir näher kommen, taucht eine lange Mauer auf, die der Straße folgt. Es muß die Mauer des ehemaligen Klosters der Hieronymianer von San Juan de Ortega sein. Links vom Weg noch ein uraltes, eingefallenes Haus, und dann sind wir bei der Apsis einer sorgfältig restaurierten romanischen Kirche. Rechts davon wird ein großes Klostergebäude erneuert, und vor der Kirche treten wir auf einen großen Vorplatz, der von einer Häuserreihe gesäumt ist. Sie gehört zum ehemaligen Pilgerhospital von San Juan, und hier ist auch das Pfarrhaus von José María Alonso, dem Priester und Herbergsvater von San Juan de Ortega.
José ist nicht im Haus, aber seine Herberge ist offen. Er hat sie uns vor zwei Jahren schon gezeigt, als wir den Weg durch die Ocaberge erkundet haben. Jetzt ist der große Ausbau, den er damals angekündigt hat, im Gang. Er ist nötig, denn in der sommerlichen Hochsaison übernachten bei ihm bis zu 170 Pilger.
Heute ist allerdings noch niemand da. Wir setzen uns auf die Bank vor der Herberge und warten. Eine milde Herbstsonne beleuchtet den großen Platz. Links von uns schließt ihn die Fassade der alten Klosterkirche und die Glockenmauer ab, die wir von weitem über den Bäumen gesehen haben. Vor uns ein Wald von hohen Bäumen. Es sind wahrscheinlich verwilderte Klostergärten, denn das Kloster ist seit langem aufgegeben. Rechts führt der Weg weiter nach Westen. Man gelangt in einem Tag nach Burgos.
Da kommt ein kleiner Seat angefahren. José ist in der Stadt gewesen. Er erinnert sich an unsere erste Begegnung, obwohl wir damals autofahrende Touristen gewesen sind, und lädt uns herzlich ein, zu ihm hereinzukommen. Voll Stolz zeigt er uns den Ausbau seiner Herberge. In der Gemeinschaftsküche glänzt schon der Chromstahl, und auch im sanitären Bereich vollzieht sich ein Quantensprung. Aber der kleine viereckige Hof mit seinen Galerien soll erhalten bleiben. Ich schätze, daß er aus dem 17. Jahrhundert stammt. Wir werden in einem Schlafsaal mit etwa 20 Doppeldeckerbetten übernachten.
Inzwischen sind vier weitere Pilger mit dem Fahrrad angekommen. Es sind Studenten aus Bayern, zwei angehende Medizinerinnen und zwei Physiker. José María lädt uns alle in die Küche des Pfarrhauses zum gemeinsamen Nachtessen ein. Jeder
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