Santiago, Santiago
Schafherde zieht langsam über den Hang.
Wir steigen in das Tal ab, überqueren das Flüßchen, das sich durch seine Mitte schlängelt, und kommen auf der anderen Seite zum Dorf Hornillos. Bei uns hieße es wohl »Kalköfen«. Es ist ein Straßendorf mit zwei zusammengebauten Zeilen von anderthalb- und zweistöckigen Häusern. Sie sind aus luftgetrockneten Lehmziegeln errichtet. Viele sind unbewohnt, einige eingestürzt. Im Zentrum gibt es jedoch Leben. Alte Frauen kommen von der Messe, Männer stehen vor den Häusern zu einem Schwatz. Man grüßt freundlich. Ein rundlicher Mann in Baskenmütze ruft uns einen ermunternden Satz nach. Man kennt die Pilger an dieser Straße.
Durch ein kleines Seitental steigen wir wieder zur Ebene der Meseta auf. Wir wissen, daß es jetzt sieben Kilometer geradeaus gehen wird. Nur ein einziges Mal werden wir in den Graben eines ausgetrockneten Baches hinunter- und aus diesem wieder heraussteigen. Der Horizont liegt wieder als absolut gerade, waagerechte Linie vor uns. Wir sind ganz allein. Nur über uns schweben lautlos fünf Adler. Wir wandern jetzt in der Sonne, zugleich weht aber weiterhin ein scharfer, kalter Wind. Das Mittagessen könnte eine kühle Angelegenheit werden. So kalt, wie er angerichtet schien, brauchen wir den Brei nicht zu essen. Auf den Feldern liegen am Wegrand immer wieder Haufen von gepreßten Strohballen, so wie sie von den Mähdreschern ausgeworfen werden. Aus einem Dutzend solcher Ballen bauen wir uns eine mannshohe, vom Wind abgewendete Nische mit Sitzbank. Die Problemlösung bewährt sich, und wir sind stolz wie Kinder, die ihre erste Hütte gebaut haben.
Während wir unser Brot mit Schinken essen, geht ein junger Mann mit Rucksack und unter den Deckel geklemmtem Geigenkasten vorbei. Er bemerkt uns in unserem Versteck nicht, aber ich rufe ihn an. Er zögert und kommt dann einige Schritte zurück. Ich frage ihn auf spanisch, wo er herkomme und wo er hinwolle. Das Ziel ist klar: Santiago. Doch er sagt, er wohne auf Mallorca. Er sei mit Frau und Kind unterwegs, diese aber per Autostop.
Jetzt erinnere ich mich, daß ich die drei unter einer Arkade in Burgos gesehen habe. Er spielte dort auf seiner Geige und hatte den offenen Kasten vor das Sportwägelchen mit dem dreijährigen Kind gestellt, die Frau im langen Rock mit großem Umtuch. Sonst ist der junge Mann nicht sehr gesprächig, er will weiter, und wir wünschen ihm gute Reise.
Verena findet, sein Spanisch habe nicht eben echt getönt, was ich bestätigen muß. Ich erinnere mich auch an die Melodien, die er in Burgos auf seiner Geige gespielt hat. Mir kam vor, sie seien einem deutschen Liederbuch entnommen. Und dieser Geigenkasten unter der Klappe des Rucksackes? Das ist doch eher der Gestus des jugendbewegten deutschen Pädagogen als des echten Mallorkers. Warum hat er sich nicht zu erkennen gegeben und deutsch geredet? Ich hätte ihm dann gesagt, daß ich der Aebli von den »Grundformen des Lehrens« bin, und er hätte sich vielleicht an sein Studium erinnert. Vielleicht will er jedoch gar nicht daran erinnert werden und nichts mehr von Grundformen und Lehren wissen. Alles Vermutungen. Man kann ein Schicksal nicht aus einem dreiminütigen Gespräch und einer flüchtigen Anmutung rekonstruieren.
Nach einer weiteren Stunde auf der sonnigen, aber windigen Ebene beginnt sich die Landschaft zu bewegen. Wir kommen an den Rand eines kleinen Tales mit kahlen, schiefrigen Hängen. Der Talgrund wird zunehmend grüner, und nach einer Biegung des Weges blicken wir auf die grau-braunen, eng beieinanderliegenden Dächer eines Dorfes, mit der herausragenden Steinkuppel seines Kirchturmes. Es ist Hontanas, »Brunnen«. Verloren am Rande der Meseta, hat es sein mittelalterliches Gesicht fast unverändert bewahrt. Auch die Terrassengärten über den Häusern sind intakt, und etwas außerhalb des Dorfes sieht man einen schönen Palomar mit Pultdach und Fluglöchern. Ein Schwarm von großen Tauben fliegt zu ihm hinüber.
Wir wandern durch die Gassen des Dorfes. Die zweistöckigen Häuser sind im Untergeschoß aus großen Steinen gemauert.
Das Obergeschoß kragt aus und ist in jener Fachwerkbauweise errichtet, die wir nun schon oft beobachtet haben. Es ist Siestazeit, und wir sehen nur zwei alte schwarzgekleidete Frauen mit Kopftuch.
Zwischen überwachsenen Mauern verlassen wir Hontanas und wandern auf dem alten Weg talauswärts. Die Vega — das ist der Talgrund — ist bewässert und saftig grün, mit Pappeln am Bach. Aber
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