Santiago, Santiago
schon wenige Meter darüber verläuft der Weg wieder durch die Pflanzenwelt der Steppe, mit Dornen, malerischen Büscheln von trockenem Gras und einzelnen Büschen von Heckenrosen und Steineichen.
Allmählich weitet sich das Tal. Wir wandern jetzt auf der einsamen Straße. Auch sie ist von Pappeln gesäumt. Sie rauschen im Nordwind und neigen sich nach Süden. Von Ferne erkennen wir zwei hohe gotische Bogen, die sich über der Straße wölben. Daneben erheben sich die Mauern eines Kirchenschiffes ohne Dach. Es muß hier auch ein Pilgerhospital und ein Klostergebäude gegeben haben. Davon ist nichts übriggeblieben. Oder doch? Hinter der Kirchenruine entdecken wir einen Bauernhof. Er ist aus den Steinen des verschwundenen Klosters errichtet.
Weiter auf der Landstraße. Wir haben nun schon etwa 25 Kilometer hinter uns und spüren erste Zeichen der Müdigkeit. Da, nach einer Biegung des Tales, erhebt sich weit vor uns der Burghügel von Castrojeriz. Er steigt isoliert aus einem Talkessel zwischen Tafelbergen auf. Wenn man im Geiste ihre Oberkanten verbindet, ergibt sich wieder die waagerechte Horizontlinie der Meseta. Es ist ein Bild, wie es Caspar David Friedrich gemalt hätte: eine Talmulde von unwirklicher Tiefe, mit ganz und gar einfachen Linien und einem quasi-kultischen Zentrum, dem ebenmässig ansteigenden Burghügel und seiner krönenden Ruine. An diesen schmiegt sich die Stadt, in der graubraunen Farbe seiner Abhänge. Das Ganze hebt sich scharf von einem kalten, wolkenlosen Himmel ab.
Etwa um vier Uhr treten wir in die Gassen der Stadt ein. Keines der drei Hotels, von denen der Pilgerführer spricht, existiert mehr. Aber auch hier wissen die Leute Rat: die Wirtin eines Restaurants vermietet einige Zimmer. Bei ihr kommen wir unter.
»Castrojeriz« klingt sehr arabisch. In Wirklichkeit soll es das »Castrum des Siegerich« sein. War er ein Franke, ein Westgote? Die Stadt hat heute noch etwa 1000 Einwohner. Sie besitzt aber fünf große Kirchen, drei davon extra muros. Eine davon ist ein eindrücklicher, festungsartiger Bau. Er erinnert uns daran, daß hier einmal die Frontlinie zum Reich der Mauren verlief und daß in der Ebene von Castrojeriz mehrere Schlachten der Reconquista geschlagen wurden.
Aimerics Brücke
45. Tag: Von Castrojeriz nach Frómista
Im Morgengrauen verlassen wir die schlafende Stadt und wandern auf den Fluß Odrilla zu. Hinter ihm steigt der Weg schräg durch den Abhang zur Meseta auf. Noch unten in der dunkeln Vega hören wir hinter uns Hundegebell, und im Zurückblicken bemerken wir eine Staubwolke, die uns folgt. Es ist eine Schafherde, die sich wie wir auf dem staubigen Sträßchen zum Fluß hin bewegt. Wir bleiben stehen und erkennen den Hirten, der die Herde anführt: eine biblische Gestalt, mit langem Mantel und schulterhohem Stab. Unter der Pelerine trägt er einen Brotsack, wie man ihn auf den Pilgerdarstellungen sieht.
Mit einer alttestamentlichen Gestalt knüpft man nicht ohne weiteres ein Gespräch an. Aber der Mann trägt eine durchaus unbiblische Baskenmütze, und dementsprechend antwortet er auch in ganz normalem Spanisch, das wir sogar sehr gut verstehen. Wir lernen einen interessanten und interessierten Spanier kennen. Die Herde gehört ihm selbst, und er handelt mit den Landbesitzern das Recht aus, die abgeerneten Getreidefelder mit seinen Tieren zu beweiden. Das Gemeindegebiet wird unter verschiedenen Kollegen aufgeteilt, mit genau festgelegten Grenzen.
Bei aller Modernität hat der Mann jedoch eine ursprüngliche Sympathie für die Pilger bewahrt, die den Tag wie er, wandernd und Wind und Wetter ausgesetzt, verbringen. Er erzählt uns von einem Belgier, den er vor einem Jahr in seinem Haus aufgenommen habe und mit dem er seither korrespondiere. Ein Schafhirt, der mit belgischen Freunden korrespondiert? Auch hier stoßen wir an die Grenzen biblischer Analogien.
Die Herde wird den Tag in der Nähe des Flusses verbringen. Wir müssen hinüber und auf die Meseta hinauf, also verabschieden wir uns von dem anregenden Gesprächspartner und steigen durch einen wilden, von Wasserrinnen durchzogenen und von Menschen teilweise durchwühlten Hang zur Meseta auf. Man erkennt noch Spuren der Terrassierung, aber heute wird hier nichts mehr angepflanzt. Eine Zeitlang scheint man ein alabasterähnliches Gestein abgebaut zu haben.
Wie wir oben ankommen, ist die Sonne schon aufgegangen. Ihre Strahlen streichen flach über das weite Becken von Castrojeriz. Mehrere Täler münden hier
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