Santiago, Santiago
ummauerte Friedhof ist geblieben. Jetzt sehen wir auch das Dorf Calzadilla. Eigentlich ist es nur eine Straße mit einem Dutzend kleiner Häuser auf jeder Seite. Die Straße heißt »Calle del peregrino«, wie könnte sie anders heißen?
Dann biegen wir in das Tal ein und folgen ihm aufwärts. Nach dem Führer müßten wir nun viele Kilometer der Autostraße folgen, was uns bei der aufsteigenden Hitze nicht gefallen will. Das Tal ist breit und wenig intensiv bebaut, mit natürlichen Magerwiesen, einem von Bäumen bestandenen Bach und Buschwald an den Talhängen. Links von der Straße steht ein großer Bauernhof. Er ist aus den Resten eines Klosters errichtet, aber davon zeugt nur noch sein Name »Santa María de las Tiendas« und eine Fassade, die vornehmer als diejenige eines Bauernhauses wirkt. Wir verlassen die Straße und gehen an dem Hof vorbei, überschreiten den Bach auf einer Furt und folgen dem Waldrand. Hier leuchten die Hagebutten. Schlingpflanzen entlassen ihre Flugsamen in die Luft, und die Brombeeren reifen heran. Wir haben zum ersten Mal das Gefühl, daß wir uns dem Herbst nähern. Es ist zwar noch sehr warm, aber es ist, als ob die Welt ein wenig stiller geworden wäre.
Dann müssen wir auf die Straße zurück, es gibt keine Alternative. Wir überschreiten einen kleinen Paß und wandern nun in ein weites, gelb-braunes, trockenes Tal hinunter. An seinem rechten Abhang liegt ein Dorf, das fast vollständig mit einer Mauer umgeben ist. So waren unsere mittelalterlichen Dörfer durch den Dorfzaun eingeschlossen. Über dem Dorf schaut eine Kirche aus braunem Backstein, mit barockem First, ins Tal hinunter. Die linke Talseite geht in einen breiten, braunen Hügelzug über, an dessen Rand wir in einigen Kilometern Entfernung ein weiteres Dorf ausmachen: Terradillo, unser heutiges Ziel. Ein steiniges Sträßchen führt dort hinauf.
Wir beginnen die Anstrengung des Tages zu spüren, denn wir haben nun schon etwa 25 Kilometer hinter uns. Es bleiben noch etwa drei, aber es sind lange und heiße drei Kilometer. Das Bewußtsein engt sich ein, wir marschieren wortlos nebeneinander. Am Ende gebe ich mir einen Ruck, wir verlassen die Straße, um querfeldein zum Dorf zu gelangen. Aus den Stoppelfeldern steigt der Geruch heißen Strohs. Eine Schafherde zieht in zeitloser Ruhe über die abgeernteten Felder.
Dann die ersten Häuser. Sie sind alle aus ungebrannten, mit Stroh verfestigten Erdziegeln, braun, von gleicher Farbe wie die Erde, auf der sie stehen. Die verlassenen unter ihnen haben eingefallene Strohdächer. In der Hauptstraße, die zur Höhe des Hügelzuges hinaufführt, spielen einige Kinder, ohne Schwung — es ist zu heiß. Oben steht eine charaktervolle Kirche, wir hatten sie von weitem gesehen. Sie ist geschlossen, aber unsere Kräfte hätten auch kaum zu einer genaueren Besichtigung gereicht.
Das Wichtigste: im Dorf hält ein Bus, der von Norden herunterkommt und nach Sahagún weiterfährt. Hier besteht keine Gelegenheit zum Übernachten, und ohne Not wollten wir es nicht unter freiem Himmel versuchen. So setzen wir uns auf die Bank am Schatten, auf der sich auch zwei alte Männer niedergelassen haben, und warten auf den Bus.
Es will uns nicht gelingen, ein Gespräch mit den Alten anzuknüpfen, wir wissen nicht, ob unsere Müdigkeit oder ihre Zurückhaltung schuld ist. Wir betrachten die Landschaft. Vor uns liegt keine Ebene mehr, sondern eine Folge von weichen Wellen, Hügelzug hinter Hügelzug. Der letzte verschwimmt im Dunst der Ferne. Wir blicken nach Westen: dort muß León liegen, und dahinter, nach einem weiteren Stück Meseta, die beiden Bergketten, die Kastilien von Galizien trennen, das Land der Könige und der Burgen vom Land der spanischen Kelten und ihren Sagen, Legenden und Wunder.
Der Bus trifft ein und nimmt uns mit. In wenigen Minuten sind wir in Sahagún. Zu Fuß wären es noch gute zwei Stunden gewesen. Ein einfaches Gasthaus mit rauchiger, lokaler Wirtschaft nimmt uns auf. Doch wir sind froh, für eine Nacht versorgt zu sein.
Sahagún: Das spanische Cluny
Sahagún liegt an der Eisenbahnlinie Madrid — León, und die Anstöße, die von dieser Verkehrsverbindung ausgegangen sind, haben der Stadt nicht gut getan. Das Zentrum ist eine Mischung von alten und neueren Häusern, im Stil der jeweiligen Epoche, ein wenig Jahrhundertwende, ein wenig Zwanzigerjahre, einige Häuser aus der Nachkriegszeit. Doch die Stadt ist bunt und lebendig. Auf der Plaza mayor herrscht ein munteres
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