Santiago, Santiago
hinaus, vorbei am Portal der Santiago-Kirche, in dessen Bogen die Stände und Berufe des 11. Jahrhunderts liebevoll abgebildet sind: der Schmied, der seinen Blasebalg treibt, der Schreiber, der seinen Text korrigiert, die Harfenspielerin, die versunken den Tönen ihres Instrumentes lauscht, der lesende Mönch.
Dann führt die Straße zum Río Carrión hinunter und über die Brücke. Am Wasser haben wir gestern abend eine Zigeunersippe bei ihren Wagen gesehen, und diese ist Verena in der Dunkelheit nicht ganz geheuer. Doch wir sind rasch und ungesehen an der gefährlichen Stelle vorbei. Dann gehen wir noch im Mondschatten eines Klosters, und schließlich haben wir vor uns nur noch die dunkle Ebene der Meseta. Zum Glück läuft das Sträßchen einfach geradeaus, denn die Wegzeichen sind kaum auszumachen.
Zum Glück geradeaus? Die Karte verspricht einiges mehr davon, als uns lieb werden könnte. Nach drei Kilometern beschreibt die Straße nämlich einen ganz kleinen Bogen, um einen Bach zu überqueren, und dann geht sie über weitere acht Kilometer schnurgerade vorwärts. Wie wird das werden? Aber wir haben längst gelernt, die Probleme unserer Reise zu lösen, wie sie auftreten.
Wie wir die spärlichen Lichter der Stadt hinter uns haben, öffnet sich über uns ein Meer von Sternen. Die Milchstraße zieht sich als unregelmäßiges Band mitten durch sie hindurch, und der große Wagen steht tief am Horizont. Der Nordstern funkelt in der Höhe, heute nacht ginge es auch ohne Kompaß. Rechts vor uns erkennen wir ganz schwach zwei oder drei ferne Lichter. Sie stammen von einem kleinen, in der Ebene verlorenen Dorf, das wir nie sehen werden.
Hinter uns wird der Himmel nun ein wenig bleicher, und die Sterne verschwinden. Nur der Morgenstern leuchtet hell und klar über dem Horizont. Der Himmel vor uns ist noch dunkelgrau, die Bäume am Wegrand noch bloße formlose Schatten, aber wir erkennen wenigstens die Straße vor uns. In der Ferne bellen zwei Hunde — der einzige Laut über der Ebene.
Mit der Zeit rötet sich der Dunststreifen am Osthimmel. Wir erkennen jetzt die Formen der Bäume und können sie lokalisieren, und am Rand der Straße unterscheiden wir die Pflanzen und die Grasbüschel.
Der Osthorizont ist nun violett geworden und der Himmel darüber rot, dann orange, dann gelb, und dieses geht unmerklich in ein helles Blau über. Nur Venus und Mars sind darin noch sichtbar. Dann leuchtet ein Wolkenstreifen intensiv rot auf, und wenige Augenblicke später steigt die Sonne als blutrote Scheibe aus dem Dunst des Horizontes. Sie ist in kurzer Zeit voll und rund. Über ihr strahlt ein Lichthof. Er setzt sich in einem breiten Strahlenbündel fort, das steil am Himmel aufsteigt.
Es ist der 20. September, die Sonne ist also fast genau im Osten, und unsere langen Schatten zeigen nach Westen. Vor uns sehen wir kein Haus und keinen Baum. Der Horizont ist ein scharfer waagerechter Strich. Die Straße verliert sich auf seiner Höhe und geht in den Himmel über. Wir kommen uns sehr klein vor.
Zeit zum Nachdenken. Was hat es mit den Gebeinen des heiligen Jakob in Santiago auf sich? An ihre Wunderwirkung vermögen wir nicht wie die Menschen des Mittelalters zu glauben. Es ist sogar fraglich, ob die Reste Jakobs wirklich dort liegen. Aber müssen es seine physischen Spuren sein? Er ist der Jünger Jesu gewesen, hat seine Worte gehört und ist Zeuge seiner Handlungen gewesen, und er muß gespürt haben, was von ihnen ausging. Er hat bei ihm erfahren, was die göttliche Ordnung dieser Welt ist und sein könnte. Nicht jedem von uns gelingt es, diesen Gott zu erkennen, wenn er über sich in den Himmel blickt, und Ihn in der Welt zu sehen, fällt auch nicht jedem leicht. Darum die Suche nach der Nähe zu seinen Mittlern. Nicht zu neuen Worten und Begriffen, sondern gleichsam körperliche Nähe. »Daß ich spüre, daß ich bin,... daß Du bist,... daß Du da bist.« Einen menschlichen Mittler zu Gott suchen, um dem Mittler näher zu kommen? Auf ihn zugehen. Und gehend nachdenken, versuchen, die körperliche und die geistige Bewegung eins werden zu lassen...
Nach guten zwei Stunden — es ist inzwischen heller Tag — kommen wir an »der« Steineiche vorbei. Über Kilometer und Kilometer war kein Baum sichtbar, darum ist sie im Führer besonders verzeichnet. Zugleich beginnt sich der Weg zu senken, und wir sehen zwischen zwei niedrigen Tafelbergen das Grün eines Tales. Rechts ist ein Kirchturm aufgetaucht. Die Kirche steht nicht mehr, nur der
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