Santiago, Santiago
sind noch erkennbar. Sie wurden durch einen Kanal aus dem Tal gespeist, wohl um das Gold zu waschen. Der Mann ist kein Ingenieur, aber er kennt die Anlage gut, denn er stammt aus dem Dorf hinten im Tal, und er hat eine humanistische Bildung, das erkenne ich an seinem Vokabular, auch im Spanischen. Wir sprechen die gleiche Sprache, und sie verbindet uns, auch wenn wir von zwei ganz verschiedenen Ecken des alten Kontinents kommen. Der »europäische Geist« ist kein bloßes Schlagwort, er ist eine Realität.
Dann erreichen wir das berühmte Rabanal del Camino, Etappenort in Aimerics Beschreibung des Jakobsweges von 1130, erwähnt auch schon in den Karlssagen, Sitz des Templerordens und eines wichtigen Hospitals. Die moderne Straße umfährt den Ort am Rande, wir gehen durch die alte Gasse, auf der sich die Pilger zur Kirche und zur Komturei der Templer begeben haben. Die Gasse ist ausgewaschen, nur noch Andeutungen eines Belages sind sichtbar. Am Fuße der einstöckigen Häuser wachsen Gras und Unkraut, über die Gartenmauern wuchern Brombeerranken und Efeu, die meisten Häuser sind unbewohnt. Auch so noch haben sie Charakter, sind aus einem roten, grünlich irisierenden schiefrigen Stein gebaut, mit römischen Ziegeln oder mit Stroh bedeckt. Malven und Astern, an einem Ort sogar verwilderte Rosen, wachsen an den Hauswänden. Die Kirche ist das einzige Überbleibsel des Templersitzes. Sie ist verschlossen. Das Dorf hat keinen Pfarrer mehr. Von Zeit zu Zeit kommt einer aus Astorga. Früher gab es hier noch eine »Bar«, aber auch sie ist seit zwei Jahren geschlossen.
Am Ausgang des Dorfes ist der Weg eingeschnitten. Es liegt Wasser, das nicht mehr abgeleitet wird, Sträucher beginnen darin zu wachsen. Auf der Seite, etwas erhöht, ist ein schmaler
Pfad getreten. Wir wandern aus dem Dorf hinaus, in gedämpfter Stimmung: Sic transit gloria mundi.
Aber jetzt bricht die Sonne durch und erleuchtet eine epische Landschaft. Wir sind schon auf etwa 1100 Meter Höhe und überblicken mehrere Täler, die sich gegen die Leóneser Meseta öffnen. Dahinter treten die Berge hervor, die bisher von Dunst und Wölken verhangen waren. Sie haben die sanften Konturen der alten Gebirge mit ihren geheimnisvollen Mineralschätzen. Unsere Alpen sind dagegen jung, schroff und fast ohne mineralische Substanz.
Wir sind inzwischen auf die asphaltierte Straße zurückgekommen. Vor uns marschieren ein Mann und zwei Frauen mit Rucksäcken. Wir hatten sie im Dorf von weitem gesehen und dann wieder aus den Augen verloren. Wer sie wohl sind? Wir holen sie ein und grüßen, vorsichtshalber auf spanisch. Getroffen: es sind Spanier, Pilger wie wir. Wir tauschen die obligaten Informationen aus, wo wir herkommen, wie lange wir unterwegs sind, daß wir alle nach Santiago wollen. Sie kommen aus dem Baskenland, haben unterhalb Bilbaos begonnen, sind also etwa 14 Tage unterwegs. Sie kommen heute wie wir aus Astorga und werden sich, anders als wir, am Abend von einem Taxi nach Astorga zurückholen lassen, dort übernachten und den Weg morgen am Punkte der Unterbrechung wieder fortsetzen.
Wir marschieren nun gemeinsam weiter, glücklich, wieder einmal andere Pilger kennenzulernen und Gedanken auszutauschen. Weder sie noch wir wagen unmittelbar zu fragen, was wir beruflich treiben, aber ich achte auf alle Zeichen, die das Geheimnis ein wenig lüften könnten. Der Mann ist in den Vierzigen, trägt einen kurzen Bart, geht mit einem Stock und macht mir einen stillen und feinen Eindruck. Ich fühle mich in seiner Nähe wohl, obschon er nicht viel sagt. Die Frauen sind jünger, knapp vierzig, die eine klein und energisch, mit Kraushaar und solid gebaut; sie versucht englisch mit uns zu reden. Wir bitten sie, doch spanisch zu sprechen, denn wir möchten unser passives Sprachwissen aktivieren. Die andere Frau ist offensichtlich gebildet, hat sich mit Psychologie und Philosophie beschäftigt und spricht eine intelligente und differenzierte Sprache. Alle haben über den Jakobsweg gelesen und ihre Reise sorgfältig vorbereitet.
Schließlich wage ich es, den Mann nach seinem Beruf zu fragen: er ist Volkswirt und arbeitet für eine Bankengruppe. Aber das ist nur die eine Hälfte seiner Interessen, die andere bezieht sich auf religiöse Fragen. Er möchte ein Buch über das Erlebnis seiner Pilgerfahrt schreiben. Darum verstehen wir uns so gut... Die erste der Damen ist Geschäftsfrau, auch da habe ich gut geraten. Was aber ihre Freundin ist, finde ich bis zum Schluß nicht
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