Santiago, Santiago
heraus, und wage es auch nicht zu erfragen. Warum eigentlich nicht? Das Geheimnis von Schüchternheit und Mut im zwischenmenschlichen Kontakt. Verena und ich erzählen von unserer Familie, den vier Kindern, sagen, daß wir beide im Lehrfach tätig gewesen sind.
Lebhaft plaudernd, wandern wir auf dem leicht ansteigenden Sträßchen vorwärts, einmal in dieser, dann in jener Kombination. Die gemeinsamen Motive, die ähnlichen Probleme und Erlebnisse und das gemeinsame Ziel verbinden uns mit diesen Spaniern stärker als mit vielen Menschen unserer Heimat, die wir länger kennen und denen wir äußerlich ähnlicher sind.
Die Straße steigt weiter am rechten Hang des Tales auf. Die Meereshöhe ist 1200 Meter, 1300 Meter, es müssen bald 1400 sein. Die Bäume werden seltener, es ist eine Weidelandschaft mit Hecken und Büschen. Vor uns taucht wieder ein Dorf auf, die Straße weicht nach rechts aus, aber ein steiniger Weg führt zwischen den Häusern hindurch. Das ist Poncebadón, benannt nach dem Abt Ponce von Cluny, ein Zeichen dafür, daß hier einst ein Tochterhaus des berühmten Klosters im Burgund gestanden hat. An diesem Ort fand im 10. Jahrhundert ein spanisches Konzil statt, und einst gab es hier mehrere Hospitäler.
Aber was für ein Bild heute! Das Dorf ist tot, die meisten Häuser sind eingefallen, die Kirche ausgeräumt, sie dient als Strohlager. Es ist eine breite Dorfstraße, von zwei Häuserzeilen gesäumt, doch aus den Fenstern gähnt die Leere. In einem einzigen Haus wohnt eine alte Frau mit ihrem Sohn, einem Schafhirten.
Wir gehen weiter. Es muß hier einige Quellen geben, der Weg führt ein Stück weit über saftige Bergweiden, dann beherrschen wieder die Trockengräser und die Dornbüsche das Bild. Es geht nun steiler aufwärts über die letzte Stufe vor der Paßhöhe. Dann folgt der Weg einem kahlen Hang. Vor uns öffnet sich allmählich eine Berglandschaft mit Höhen und tiefen Tälern. Eigentlich gibt es keinen deutlich markierten Übergang, vor uns liegt vielmehr eine lange Höhenwanderung auf einer gebrochenen, nach Westen führenden Krete.
Wir stoßen auf das berühmte Eisenkreuz. Es ist in einen etwa fünf Meter hohen Steinhaufen gepflanzt, den die Vorbeigehenden zusammengetragen haben. Denn schon seit vorchristlicher Zeit nimmt der Wanderer vor diesem Punkt einen Stein auf und wirft ihn hier auf den Haufen, das soll Glück bringen. Das geschmiedete Kreuz selbst ist klein. Es steckt auf einem hohen, unregelmäßig gewachsenen Holzpfahl. Uns gefällt seine Einfachheit.
Zeit, von den spanischen Freunden Abschied zu nehmen. Wir wollen weiter, bis zum nächsten Dorf. Die Spanier warten hier auf ihren Rücktransport. Auch zwei junge Deutsche, die mit Fahrrädern nach Santiago unterwegs sind, verabschieden sich und treten die Talfahrt an. Es ist etwa vier Uhr, und plötzlich sind wir ganz allein. Am Himmel ziehen weiße Wölken, dazwischen leuchtet immer wieder blauer Himmel; die Sonne kommt und geht, und es weht ein kräftiger Paßwind. Ich frage mich, wie wohl der Rest der Etappe verlaufen wird. Verena sagt nichts, aber ich merke, daß auch sie einige sorgenvolle Gedanken bewegt. Hätten wir uns auch nach Astorga zurückholen lassen sollen? Das will mir nicht in den Kopf. Es paßt nicht zur Idee unserer Reise. Also vorwärts, es wird schon gutgehen.
Ich betrachte die Vegetation; hier wird offensichtlich im großen Maßstab aufgeforstet. In den Berghängen sind in engen Abständen tiefe, waagerechte Furchen gepflügt, wohl mit einem Bulldozer, und darin sind junge Tännchen gepflanzt.
Nach etwa einer halben Stunde kommen wir nach Manjarín. Auf der Karte steht »abandonado«, aufgegeben. Das Dorf zählt wenige Häuser, vielleicht etwa zehn. Die Dächer von dreien oder vieren sind noch intakt; sie werden als Ställe genutzt, und auf dem Boden liegt trockener Dung. Der Friedhof ist klein, kaum zehn auf zehn Meter. Seine Mauer ist noch intakt, eine geschmiedete Tür führt hinein, die schiefen Kreuze sind von hohem Unkraut überwuchert. Eines der Häuser ist offenbar erst vor wenigen Jahren verlassen worden. Man hat zuletzt noch einmal einen Versuch gemacht, es instandzusetzen. Es ist abgeschlossen, aber ein Fenster ist zerschlagen, jemand ist eingebrochen, um darin Schutz zu suchen.
Hier wollen wir unsere Ruhepause einschalten. Sollen wir auch hineinkriechen? Das Haus würde uns vor dem Wind schützen, aber auch diese Idee will mir nicht gefallen. Pilger kriechen nicht durch aufgebrochene Fenster.
Wir
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