Santiago, Santiago
bestelle ich zur Feier des guten Abschlusses »un vaso«, ein Glas Wein, und dann noch eines. In einer Viertelstunde ist das Taxi da, und um 1.45 Uhr haben wir unser Hotelzimmer in Ponferrada bezogen und versinken in den tiefen Schlaf der müden Wanderer.
Ponferrada: Templerburg und Metallindustrie
Wir ruhen uns in Ponferrada von den körperlichen und geistigen Strapazen des Übergangs über die Leóneser Berge aus und warten auf drei Freunde, die die letzten Etappen der Reise mit uns teilen wollen. Sie werden zwei Fahrräder mitbringen. Zimi und Peter wollen abwechselnd mit uns wandern; Madlon, Peters Frau, mit dem Nicht-Wanderer radfahren und dabei die Landschaft etwas weiträumiger erkunden. Aber vorerst sind sie noch nicht da, und wir haben Zeit herauszufinden, wo wir uns befinden.
Ponferrada, eine Stadt von etwa 60 000 Einwohnern, wird durch den Fluß Sil, der hier nach Süden fließt, in zwei Teile geteilt: auf der Ostseite, etwas erhöht auf einem Hügel, eine kleine mittelalterliche Stadt mit einer mächtigen Templerburg, auf der Westseite eine laute und staubige Industriestadt, die im letzten und in diesem Jahrhundert entstanden ist. Der Sil bildet am Fuß der Altstadt eine tiefe Schlucht. Zu Ende des 11. Jahrhunderts wurde sie mit einer Brücke überwunden, und es entstand auf der Bergseite die Stadt. Vorher mußten die Pilger weiter oben zum Sil absteigen, um ihn zu überqueren. Welche Rolle das Eisen bei der Brücke spielte (»pons ferrata«), weiß niemand recht zu erklären.
In Ponferrada sind wir noch nicht in Galizien. Wir befinden uns vielmehr in einem weiten Talkessel, dem sogenannten Bierzo, der viel tiefer liegt als die Meseta, von der wir herkommen. In diesem Talkessel findet man Kohle, Eisen, Bunt- und Edelmetalle. Darum haben schon die Römer eine Straße in diese verlassene Ecke Spaniens gelegt, und darum haben wir in der Nacht auch von weitem die Lichter der Hüttenwerke gesehen. Einen Tagesmarsch entfernt steigen die Berge erneut an, und man kommt über einen zweiten Paßübergang nach Galizien.
Wir haben Zeit, die Landschaft, die wir am Schluß des Nachtmarsches durchwandert und dann im Taxi durchfahren haben, auf einem unbeschwerten Sonntagsausflug noch einmal anzusehen. Die Schlucht, die nach Molinaseca hinunterführt, erscheint am Tage harmloser als im fahlen Mondlicht. An den Hängen wachsen mächtige Edelkastanien. Wir haben sie in der Nacht als schwarze Schatten wahrgenommen und gemeint, es wären Eichen. Die romanische Brücke, die wir am Schluß überquert, und das Haus zum »Puente romano«, in das wir uns gerettet haben, bilden ein architektonisches Ensemble von romantischem Charme, »de buen sabor medieval«, wie unser Reiseführer zu sagen pflegt. Zwischen Molinaseca und Ponferrada liegen saubere und wohlhabende Dörfer in einer fruchtbaren Hügellandschaft. Es ist nicht mehr die Kargheit der Meseta und ihres Westrandes.
Wir wohnen im Hotel Madrid und beobachten sein Funktionieren. Es ist ein spanischer Familienbetrieb mit vier Generationen. Auch die Angestellten sind in sein Sozialgefüge eingebunden und verhalten sich daher anders als in einem anonymen Großbetrieb. Sie sind freundlich und hilfsbereit, zeigen aber auch Selbstbewußtsein und tun Dinge, die sie dort nie täten: Wir sehen Kellner zwischen den Mahlzeiten Wäschebündel umhertragen und Zimmermädchen bei den Mahlzeiten bedienen helfen. Die Sippe der Besitzer ißt im Speisesaal an einem großen Tisch die gleichen Gerichte wie die Hotelgäste, und die Kinder und Großkinder sind freundlich und rücksichtsvoll zur gebrechlichen Großmutter, reden mit ihr und ermuntern sie zum Essen. Man nennt Spanien manchmal ein Entwicklungsland. Wir finden, einigen Betrieben unserer Heimat könnte etwas Entwicklungshilfe durch die Menschen vom Hotel Madrid nichts schaden.
Alte und neue Bezugssysteme im Bierzo
52. Tag: Von Ponferrada nach Villafranca
Heute werden wir die Senke des Bierzo durchwandern, bis an den Fuß des Gebirges, das uns noch von Galizien trennt. Es sind gute zwanzig Kilometer, eine bequeme Tagestour. Wir sind zum ersten Mal zu dritt. Peter begleitet uns, die beiden Frauen erkunden das Tal auf dem Fahrrad.
Es geht durch die Vororte der Industriestadt Ponferrada hinaus, an Kohlehalden, Kanälen und Autobahnanschlüssen vorbei. Peter ruft uns die Gegenwart aus der Perspektive Zürichs in Erinnerung. Ich werde mir bewußt, wie sehr sich unser Bezugssystem in den letzten zweieinhalb Monaten verschoben
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