Santiago, Santiago
finden eine windgeschütze Stelle hinter der talseitigen Hofmauer eines verlassenen Hauses. Es sind Trockenmauern, und das Dach ist eingestürzt. Der alte Hof ist mit Gras überwachsen, und wir erkennen noch die Spuren eines kleinen Gemüsegartens. Auf einem liegengebliebenen Brett setzen wir uns nieder und verzehren unser Nachtessen: Brot, Schinken, Traubensaft, gemischt mit Mineralwasser, zum Nachtisch ein wenig Schokolade.
Und nun sollten wir versuchen, ein wenig zu schlafen. Ich finde eine trockene Stelle an einer Hausmauer, wo weiches Gras gewachsen ist. Man sieht weit in die Berglandschaft hinaus. Hier wickeln wir uns ein, Verena in ihre Rettungsfolie, ich in die Regenpelerine. Zuvor habe ich mir aus meinen alten Zeitungen mit der kleinen Heftmaschine noch einen Fußsack gemacht, der mir bis über die Knie reicht.
Ich liege auf dem Rücken. Über mir schwanken im klaren Abendhimmel die Rispen der hohen Gräser. Ihr Rauschen ist der einzige Laut. Er kommt und geht. Dazwischen ist es ganz still. Es ist nicht die Stille der Stadt, in der immer ein Grundpegel menschlicher Geräusche übrigbleibt, es ist die Stille der Berge, die lautlose, vollkommene. Allmählich wird der Himmel dunkler. Die Sonne ist hinter dem Haus untergegangen, und die ersten Sterne erscheinen. Die Halme über mir werden zu beweglichen Schatten. Ich bitte um den Segen unseres himmlischen Vaters, wünsche Verena eine gute Nacht und schließe die Augen.
Aber ich kann nicht schlafen. Ich friere zwar nicht, aber warm ist mir auch nicht. Verena geht es ähnlich. Wir stopfen noch die restlichen Zeitungen unter die Windjacke, das hilft ein wenig. Vielleicht ist es nicht nur die Kühle und der Wind, die uns nicht schlafen lassen, wohl auch die ungewohnten Umstände, die Einsamkeit unserer Lage. Ein Auto fährt noch vorbei. Wir lassen es, Hilfe brauchen wir keine.
Statt zu schlafen, versuche ich mich zu entspannen. Das gelingt mir leidlich. Jedenfalls kann ich gut denken, ich bin im Gleichgewicht mit mir selbst. Der Sternenhimmel ist nun ganz da, so klar, wie ich ihn nur selten gesehen habe. Es ist mir klar, daß seine Ordnung den Menschen immer als ein Abbild der göttlichen Ordnung erschienen ist, und ich verstehe auch, daß der Gott Augustins etwas Sonnenhaftes hat, die Quelle aller Wärme und allen Lebens ist, der Ort, zu dem wir hinmöchten, von dem wir ahnen, daß er eigentlich unsere Heimat, unser Ursprung und unser Ziel ist.
Ich spüre, daß auch Verena nicht schläft, spreche sie an. Sie ist nicht glücklich, scheint sich ein wenig zu fürchten, möchte am liebsten weitergehen. Ich schlage vor, daß wir noch bleiben, bis es wirklich zu kühl wird. Denn wir haben immerhin noch vier gute Marschstunden vor uns. Also noch einmal entspannen. Wie war das mit dem Mond? Er war doch in Hospital de Órbigo voll. Dann sollte er auch heute noch rund sein und uns den Weg erleuchten. Wann er wohl aufgeht?
Gegen neun Uhr haben wir genug. Es ist zu kalt geworden. Der Paßwind bläst immer noch, und mit der klaren Nacht hat sich sofort auch Tau gebildet. Mein papierener Fußsack ist feucht und weich geworden. Ich hätte meine Rettungsfolie um mich wickeln sollen. Also zusammenpacken in der Dunkelheit — das haben wir im Militärdienst gelernt.
Es ist neun Uhr, wie wir auf der schmalen Paßstraße weitermarschieren. Sie ist nun nicht mehr asphaltiert und zum Teil löcherig. Wir müssen vorsichtig gehen, denn ein übertretener Fuß könnte hier Probleme bringen. Aber es ergibt sich eine Lösung. Nach einer Wegbiegung erleuchten ferne, aber starke Lichter die Landschaft von einer Bergkuppe her. Es sind Scheinwerfer, die hohe Stacheldrahtzäune um einen Gebäudekomplex erhellen, ein unheimliches Bild für jeden, der die Berliner Mauer kennt und der von den Konzentrationslagern gelesen hat. So schlimm ist es aber nicht. Der Pilgerführer spricht davon, daß sich hier oben eine Helikopterbasis der spanischen Armee befindet: das muß sie sein. Was immer man von Armeen und ihren Stützpunkten hält: uns beruhigt ihre Nähe. Jedenfalls sehen wir nun die Straße und riskieren keinen Fehltritt mehr.
Es geht noch einmal tüchtig aufwärts und dann lange geradeaus. Schließlich beginnt sich die Straße zu senken, und fast gleichzeitig erkennen wir tief vor uns im Tal die Lichter von Ponferrada, helle Punktlinien von den Straßenlaternen und orangefarbene Lichter von den Halogenscheinwerfern eines Industriekomplexes. Die Distanz dorthin ist zwar beträchtlich, trotzdem
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