Santiago, Santiago
vermittelt uns die Sicht des Ziels ein gutes Gefühl.
Und noch ein kleines Wunder: die Straße ist nun zwar in den Schatten eines Berges getaucht, und die Scheinwerfer der Helikopterbasis erleuchten uns den Weg nicht mehr, aber gerade jetzt geht der Mond rund und hell am nordöstlichen Horizont auf und scheint schräg über die Landschaft. Sein Licht ist zwar schwächer als das der Scheinwerfer, aber sein schiefer Winkel läßt uns das Relief der Straße gut erkennen. Die ganze Landschaft ist jetzt in ein mildes Licht gehüllt. Wir erkennen die Konturen der Berge und das Dunkel der dazwischenliegenden Täler. Es geht nun entschieden abwärts. Wir denken an die beiden jungen Radfahrer: Es kann keine problemlose Abfahrt gewesen sein. Uns erleichtert die fallende Straße und die Kühle der Nacht das Wandern. Während der vierstündigen Rast haben wir uns auch gut erholt. Die Kräfte sind wieder da.
Zwischen dunklen Laubbäumen tauchen unter uns die Dächer eines Dorfes auf. Ein einziges Licht brennt noch. Vor uns beginnt ein Hund zu bellen, und ein zweiter fällt ein. Jetzt erkenne ich die beiden vor mir am Straßenrand. Sie sind groß und schwarz, weichen aber zurück, wie wir näherkommen. Mein kräftiger Eschenstock hilft mir, die Ruhe zu bewahren. Es geht steil zwischen den Häusern abwärts. Sie sind anderthalbstöckig, schmal und zusammengebaut; zu ebener Erde die Haustür, daneben ein ganz kleines Fenster, darüber ein hölzerner Balkon, der vom verlängerten Schieferdach gedeckt ist. Wie arm diese Häuser auch sind: die Stäbe der meisten Balkongeländer sind gedrechselt und der Boden mit einer verzierten Blende abgeschlossen. Armut muß nicht Formlosigkeit und Verwahrlosung bedeuten.
Dann wieder die Straße, talauswärts. Wir müssen schon mehrere hundert Meter abgestiegen sein. Am Straßenrand tauchen immer mehr Bäume auf, und die Luft ist milder geworden, der Wind hat sich gelegt. Die Straße beginnt, Schleifen zu ziehen, um Tiefe zu gewinnen. Gerne hätten wir diese auf Abkürzungen abgeschnitten, aber dazu reicht das Licht nicht aus.
Wir haben keinerlei Übersicht, wissen nicht, wohin die Wege führen.
Also auf der Straße weiter. Unser Gehen hat nicht mehr die Elastizität des Tagesanfangs. Es ist schwerer, automatischer geworden. Manchmal faßt mich eine gewisse Benommenheit. Aber dafür ist jetzt keine Zeit, denn von einer Häusergruppe links oben am Hang ertönt wieder Hundegebell. Es wird immer lauter und aggressiver. Die Tiere scheinen rasch auf uns zuzukommen, sie müssen in jedem Moment da sein. Ich erkenne nur ihre Schatten über der angrenzenden Weide. Jetzt sind sie da. Zum Glück brauche ich nicht nachzudenken, ich reagiere instinktiv, hebe meinen Stock hoch in die Luft und belle heftig zurück: Fort, fort. Das wirkt. Die Tiere verstummen, und ihre Schatten verschwinden.
Das Tal hat sich nun zur Schlucht verengt. Zum Teil sind es Felsen, zum Teil auch nur steile, pflanzenlose Schutthänge. Unten rauscht ein Bergbach; über dem Ganzen liegt fahles Mondlicht.
Wir beginnen nun die Müdigkeit des langen Nachtmarsches zu spüren, nicht so sehr im Kopf, der durch die ständig wechselnden Situationen wachgehalten wird, sondern in den Beinen, die schwer werden. Wir setzen uns auf eine Mauer über dem Bach und verzehren den letzten Apfel. Schließlich beginnt das Tal seine Wildheit zu verlieren. Der Mond, der inzwischen hoch am Himmel steht, erleuchtet einen Talgrund mit Wiesen und Laubbäumen. Die Strasse fällt weniger steil ab, und der Bach fließt stiller dahin. Nach einer Biegung erscheinen mehrere Lichter, und darüber zeichnet sich schwach die Silhouette einer Kirche gegen den Dunst des Tales ab. Das muß Molinaseca sein. Es ist 1.15 Uhr. Wir sind 6 Kilometer vor Ponferrada, auf 500 Meter Meereshöhe, haben also tausend Meter Abstieg hinter uns. Werden wir noch einen Menschen antreffen, oder müssen wir noch bis Ponferrada gehen?
Nach den ersten Häusern weitet sich das Tal, und eine romanische Brücke führt über den Fluß. Auf der anderen Seite weist ein Schild auf eine Gaststätte hin. Ich steige die steile Treppe hinauf: das Lokal ist noch offen, Männer stehen an der Bar. In der Ecke läuft ein Fernsehapparat. Verena kommt nach. Wir erregen diskretes Aufsehen, aber den Leuten ist rasch klar, was wir sind und wo wir herkommen. Ich bestelle für Verena einen Tee und frage den Burschen hinter der Bar, ob er uns ein Taxi aus Ponferrada rufen könnte. Das sei keine Sache, er tue es gerne. Da
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