Santiago, Santiago
hat. Die Wanderung auf den Wegen der Pilger ist mehr und mehr zu einer geistigen Wanderung in die Welt des Mittelalters geworden. Unsere Berufe, die heimatlichen Beziehungsgeflechte und ihre Maßstäbe sind allmählich hinter uns versunken. Die Zeitperspektive des handelnden Lebens hat sich verkürzt. Wir haben den Tag und seine Probleme genommen, wie sie kamen, ein wenig wie »die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde«. Zugleich aber hat sich unser historisches Bewußtsein geweitet: neue Bezugssysteme sind entstanden.
Zum Teil schweben diese allerdings in einem realitätsfernen geistigen Raume, und das hat seine Probleme. So ist es gut, daß Peter uns die Realität, aus der wir kommen und in die wir zurückkehren werden, in Erinnerung ruft. Wir verstehen uns ja nicht als Aussteiger. Wir möchten die modernen Schichten unserer Persönlichkeit nicht abtragen, sondern tiefer verankern und zugleich unsere geistige Vergangenheit mit modernen Augen, nicht antiquarisch und historisierend, betrachten.
Die Stadt liegt nun hinter uns. Vorerst kommen wir noch durch Dörfer, in denen alte und neue Häuser gemischt sind. Das Land ist flach, es wird bewässert und maschinell bebaut. Doch mit der Zeit beginnt es sich zu bewegen, unser Weg steigt und senkt sich in niedrigen Hügeln, wir kommen aus den Feldern in die Rebberge. Und siehe da, die Trauben sind sogar reif. Wir nehmen uns einige Beeren, »bescheidentlich«, wie es den Pilgern in alten Schriften empfohlen wird.
Dann könnten wir gemäß Führer auf der Autostraße fünf Kilometer effizient hinter uns bringen. Aber das bedeutete einen argen Verlust an »Wanderqualität«. So beschließen wir, nach Norden auszuweichen und noch einmal einen großen Bogen durch die Hügel zu ziehen, die hier an die Straße stoßen.
Es geht zuerst durch die Vega eines Seitentales, dann in einen schattigen Weg, der unter Bäumen und zwischen Hecken aufwärts zu einem Weiler führt. Hinter einer alten Kirche kommen wir wieder in die Rebberge hinaus. Wir wandern ihren Trockenmauern entlang, auf einem Weg, in dessen Mitte weiches Gras wächst. Das Grün des Reblaubes leuchtet in der Sonne des Oktobers, und in seinem Schatten hängen die reifen, blauen Trauben. Es ist warm, aber nicht mehr heiß: goldener Herbst. Die Seele hat nun wieder von der Landschaft Besitz genommen. Oder ist es umgekehrt: hat die Natur uns wieder aufgenommen und zu ihrem Teil gemacht?
Nachdem wir dem Höhenrücken für eine Weile aufwärts gefolgt sind, entdecken wir zwischen den Kronen eines Kastanienhaines links unter uns die Schieferdächer des Dorfes Valtuille de Arriba. Dahin steigen wir ab und fragen uns, ob wir wieder auf ein Dorf in Ruinen zugehen. Nichts von alledem. Valtuille, von seinen Reben umgeben, ist ein lebendiges, aktives Weinbauerndorf. Die Häuser sind zwar altertümlich, mit den Holzbalkonen, die wir im Dunkel von Acebo gesehen haben, aber sie sind bewohnt. Pilger scheinen hier selten vorbeizukommen, die Menschen betrachten uns freundlich, aber mit der Zurückhaltung des Dorfbewohners.
Hier wuchs wahrscheinlich schon um 1494, da Hermann Künig in Villafranca vorbeikam, ein kräftiger Wein, denn unser Thüringer Gewährsmann meint, seine ans Bier gewohnten Landsleute warnen zu müssen:
Darnach hastu 5 myl gen Willefrancken
Da drinck den wyn mit klugen gedancken
Dan er bornet (brennt) manchem abe syn hertz
Das er ussgeht als ein kertz.
Bei den Häusern sehen wir Werkzeuge und Geräte des Weinbaus, über deren Funktion wir nur mutmaßen können. Aber wir wollen weiter, nach Villafranca. Es geht wieder aus dem Tal heraus, über eine Höhe und durch eine Flur, die »Valdeperales«, Birnbaumtal, heißt. Und wirklich, sie stehen da, die Birnbäume, und ihre Früchte sind überreif, viele liegen schon im Gras. Wir riechen ihre Süße, sie verschmilzt mit der Wärme des Nachmittags und dem Summen der Insekten in den Kronen.
Der Dunst und der Rauch von Ponferrada liegen nun weit in unserem Rücken. Auch die Leóneser Berge sind nur noch ferne Silhouetten. Dafür sind von Norden die kantabrischen Höhen in die Nähe gerückt. Es sind kahle Berge, aber sie leuchten in warmem Gelb und Ocker. Vor uns, im Westen, steigt der waldige Gebirgszug auf, den wir morgen überschreiten werden, um nach Galizien zu gelangen.
Wir wandern in einem kleinen Tal auswärts, auf einem alten Weg. Man spürt es, wenn man die Stützmauern betrachtet, die als kunstvolle Trockenmauern aufgezogen, seither aber mit dem
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