Santiago, Santiago
Reste des Klösterchens und des Hospitals wurden zu einem einfachen kleinen Gasthof ausgebaut. Die Kirche ist vorromanisch und für ihre einsame Lage überraschend groß: man hat bei ihrer Planung offenbar schon an die Pilger gedacht. Sie ist unverputzt, aus dem örtlichen Bruchstein gebaut und mit Schiefer gedeckt. Man zeigt darin einen romanischen Kelch, mit dem sich eine Legende verknüpft, die im 15. Jahrhundert in ganz Europa bekannt war und um derentwillen Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien im Jahre 1486 hier heraufgepilgert sind. Das Taufbecken ist groß genug, um die Immersionstaufe zu ermöglichen, ein Zeichen für sein hohes Alter.
Das Nachtessen im Gasthof wird zum Erlebnis besonderer Art. Wir sitzen auf einfachen Holzbänken an rohen Tischen. Es gibt eine dampfende Schüssel mit galizischer Kohlsuppe, jenes Gericht, das uns schon lange beschäftigt, dann einen Eierkuchen mit Brot, wie er auch im Emmental hätte gemacht werden können, dazu einen kräftigen Wein aus der unbeschrifteten Flasche, die vorweg aus dem Faß nachgefüllt wird. Es ist eine Mahlzeit, die einmal ganz zu unserem Pilgerstatus paßt.
Galizien, du Grüne
55. Tag: Von Cebreiro nach Triacastela
Wie wir am Morgen vor das kleine Gasthaus treten, ziehen Nebelschwaden durch das Dorf, und es fällt ein feiner Nieselregen. Kein Anlaß zur Eile, heute droht uns kein Sonnenstich. Unsere beiden Radfahrerinnen freuen sich, daß wir Fußgänger nicht gleich zum Aufbruch drängen. Es gibt ein gemütliches Frühstück auf den Bänken der Wirtsstube, mit großen Bauernbroten und Strömen von Kaffee und heißer Milch. Seit gestern abend sind noch drei Pilger hier oben, ein junges Paar aus Genf und ein stiller junger Deutscher, Herbert mit Namen, von der Bergstraße im Rheintal. Alle wollen wir heute nach Triacastela.
Schließlich ziehen wir die Pelerinen über und verlassen, etwas zögernd, die Wärme des Gasthauses. Der Nieselregen dämpft den Schwung unseres Aufbruchs. Von der Landschaft ist heute nichts zu sehen. Wir gehen auf der nassen Straße. Von ihr sehen wir die nächsten 30 Meter, dazu einen kleinen Kreis von Weiden, die nach rechts in ein unsichtbares Tal abfallen. Der Rest sind Nebelschwaden, die von Westen her über den Berg ziehen.
Wir haben in letzter Zeit kaum mehr daran gedacht, wie viele Marschtage es bis Santiago noch sind. Über lange Zeit waren es so viele, daß uns die Zahl ohnehin nichts bedeutete. Aber nun wird uns bewußt, daß das Ziel in Reichweite liegt. Wir kommen auf etwa sechs weitere Marschtage, eine übersehbare Zahl. Diese Nähe des Zieles beginnt sich in unserem Denken auszuwirken. Ich spüre in mir eine Art inneren Zieldrangs aufsteigen.
Was für ein Ziel? Sicher einmal, die Stadt zu erreichen, die am Ende unseres langen Weges liegt. Nicht wegen der Nähe zu den physischen Resten des Apostels. Aber vielleicht wegen der Nähe zu seiner Person und, darüber hinaus, der Nähe zu dem, der sein Meister gewesen ist.
Ist unsere Wanderung also ein Versuch der Nachfolge, des Apostels oder gar Christi? So etwas wagen wir als moderne Menschen kaum mehr zu denken, geschweige denn zu sagen. Aber vielleicht »Nachahmung«, oder »Nachvollzug«? Das Mittelalter hat Jakob als Wanderer gesehen, zuerst als Missionar der Spanier, dann noch einmal in dem Boot, das ihn nach Spanien getragen hat. Auch Christus tritt uns immer wieder als einer entgegen, der unterwegs ist. Wohin? Auch hier nicht zu einem Orte hin. Von Jakob heißt es, daß er einen Missionsauftrag erfüllt habe. Christus verstand seinen Weg als die Erfüllung einer Aufgabe, die dem jüdischen Volk während Jahrhunderten vorgeschwebt war: ein Reich der Gerechtigkeit gemäß dem Willen des Schöpfers aufzurichten. Was könnte hier »Nachvollzug« bedeuten, wandernder Nachvollzug? Für mich ist es dies: die Nähe zu der Idee zu suchen, die diese Vorbilder bewegt hat, die Idee also der rechten Ordnung — und des richtigen Ordnens — dieser Welt.
Ich finde, wir sollten diese Idee heute wieder ernster nehmen. Der Zeitgeist hat sie in den letzten Jahrzehnten ausgehöhlt, es tönt vorerst hohl, wenn sie an unsere Köpfe stößt. Wir denken an »law and order« — und beweisen damit, daß auch mit unserem Gesetzesbegriff etwas nicht mehr stimmt. Wir suchen für unsere Welt und für unser persönliches Leben die rechte innere Ordnung, damit die Liebe ihre Form und ihre Ausrichtung erhält und sie nicht der Form- und der Orientierungslosigkeit verfällt. Wir
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