Saphirblau
gesammelte Recherchen konfisziert. Dass er zum Inneren Kreis der Wächter gehörte, war bislang nur eine Vermutung von uns gewesen, aber hiermit war sie wohl offiziell bestätigt.
»Da bist du ja, Gwendolyn«, sagte Falk de Villiers freundlich, aber ohne zu lächeln. Er sah aus, als könne er eine Rasur vertragen, aber vielleicht gehörte er auch zu den Männern, die sich morgens rasieren und abends schon einen Drei-Tage-Bart haben. Möglicherweise lag es an den dunklen Bartschatten rund um den Mund, auf jeden Fall wirkte er deutlich angespannter und ernster als gestern oder noch am Mittag. Ein nervöser Leitwolf.
Mr Whitman zwinkerte mir immerhin zu und Dr. White knurrte etwas Unverständliches, in dem die Worte »Weiber« und »Pünktlichkeit« vorkamen.
Neben Dr. White stand wie immer der kleine blonde Geistjunge Robert, der sich als Einziger zu freuen schien, mich zu sehen, denn er lächelte mich strahlend an. Robert war Dr. Whites Sohn, der im Alter von sieben Jahren in einem Swimmingpool ertrunken war und ihm seitdem als Geist auf Schritt und Tritt folgte. Außer mir konnte ihn natürlich niemand sehen, und weil Dr. White ja ständig dabei war, hatte ich noch kein vernünftiges Gespräch mit Robert führen können, um beispielsweise herauszufinden, warum er immer noch auf der Erde herumspukte.
Gideon lehnte mit verschränkten Armen an einer der mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Wände. Sein Blick streifte mich nur kurz und blieb dann an den Keksen auf Mrs Jenkins Tablett hängen. Hoffentlich knurrte sein Magen genauso laut wie meiner.
Xemerius war noch vor mir in den Raum geschlüpft und sah sich anerkennend um. »Donnerwetter«, sagte er. »Nicht übel, die Bude.« Er spazierte einmal rundherum und bewunderte dabei die kunstvollen Schnitzereien, an denen ich mich auch nicht sattsehen konnte. Besonders die Meerjungfrau, die über dem Sofa schwamm, hatte es mir angetan. Jede Schuppe war detailliert herausgearbeitet und ihre Flossen schimmerten in allen Blau- und Türkistönen. Seinen Namen hatte der Drachensaal aber dem riesigen Drachen zu verdanken, der sich zwischen den Kronleuchtern an der hohen Decke entlangschlängelte und so lebensecht wirkte, als könne er jederzeit seine Flügel entfalten und einfach losfliegen.
Bei Xemerius' Anblick riss der kleine Geistjunge verblüfft seine Augen auf und versteckte sich hinter Dr. Whites Beinen.
Ich hätte gern »Der tut nichts, der will nur spielen« gesagt (in der Hoffnung, dass das auch stimmte), aber mit einem Geist über einen Dämon zu sprechen, wenn lauter Menschen im Raum sind, die weder das eine noch das andere sehen können, ist nicht zu empfehlen.
»Ich schau dann mal, ob ich noch etwas zu essen in der Küche finde«, sagte Mrs Jenkins.
»Sie müssten doch längst Feierabend haben, Mrs Jenkins«, sagte Falk de Villiers. »Sie machen zu viele Überstunden in letzter Zeit.«
»Ja, gehen Sie nach Hause«, wies Dr. White sie barsch an. »Hier wird schon niemand verhungern.«
Doch, ich! Und ich war sicher, dass Gideon gerade dasselbe dachte. Als unsere Blicke sich trafen, lächelte er.
»Aber Kekse sind nicht gerade das, was man unter einem gesunden Abendessen für Kinder versteht«, sagte Mrs Jenkins, allerdings sagte sie es recht leise. Natürlich waren Gideon und ich keine Kinder mehr, aber eine anständige Mahlzeit stand uns ja wohl trotzdem zu. Schade, dass Mrs Jenkins hier die Einzige war, die meine Meinung teilte, denn leider hatte sie nicht viel zu sagen. An der Tür stieß sie mit Mr George zusammen, der immer noch außer Atem war und zudem zwei schwere, in Leder gebundene Folianten mit sich schleppte.
»Ah, Mrs Jenkins«, sagte er. »Vielen Dank für den Tee. Bitte machen Sie doch Feierabend und schließen Sie das Büro ab.«
Mrs Jenkins verzog zwar missbilligend das Gesicht, aber sie erwiderte nur höflich: »Bis morgen früh.«
Mr George schloss die Tür mit einem lauten Schnaufen hinter ihr und legte die dicken Bücher auf den Tisch. »So, da bin ich. Es kann losgehen. Mit vier Mitgliedern des Inneren Kreises sind wir nicht beschlussfähig, aber morgen werden wir beinahe vollzählig sein. Sinclair und Hawkins sind wie erwartet unabkömmlich, beide haben ihr Stimmrecht auf mich übertragen. Heute geht es nur darum, eine grobe Marschrichtung festzulegen.«
»Am besten setzen wir uns.« Falk zeigte auf die Stühle, die rund um den Tisch direkt unter dem geschnitzten Drachen standen, und alle suchten sich einen Platz.
Gideon
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