Sara Linton 01 - Tote Augen
einfach nur gelangweilt. Man kann nur soundso viele Impfungen verabreichen und soundso viele Pflaster auf offene Knie kleben, bis man den Verstand verliert.«
» Kann ich mir vorstellen«, murmelte Faith, doch insgeheim fragte sie sich, was beunruhigender war: Dass die Ärztin, die bei ihr Diabetes diagnostiziert hatte, Kinderärztin war oder dass sie Coroner war.
» Ich bin froh, dass Sie bei diesem Fall mitarbeiten«, sagte Sara. » Ihr Partner ist …«
» Seltsam?«
Sara warf ihr einen Blick zu. » Ich wollte eigentlich › intensiv ‹ sagen.«
» Er ist ziemlich gehetzt«, gab Faith zu und dachte, es war das erste Mal, seit sie Will Trent kennengelernt hatte, dass der erste Eindruck eines Fremden so wohlwollend war. Normalerweise musste man sich an ihn erst gewöhnen wie an grauen Star oder Gürtelrose.
» Er machte einen sehr mitfühlenden Eindruck.« Sara hob die Hand, um jeden Protest abzuwehren. » Nicht, dass Polizisten nicht mitfühlend sind, aber normalerweise zeigen sie es nicht.«
Faith konnte nur nicken. Will zeigte selten Gefühle, aber sie wusste, dass Folteropfer ihm sehr zu Herzen gingen. » Er ist ein guter Polizist.«
Sara schaute auf ihr Tablett hinunter. » Ich habe eigentlich gar keinen Hunger.«
» Ich glaube nicht, dass Sie gekommen sind, um zu essen.«
Sie errötete, weil man sie durchschaut hatte.
» Schon gut«, beruhigte Faith sie. » Aber wenn Sie mir noch immer die Informationen über die Coldfields geben wollen …«
» Natürlich.«
Faith zog eine Visitenkarte aus der Tasche. » Meine Handynummer steht hintendrauf.«
» Okay.« Mit entschlossener Miene las sie die Nummer, und Faith sah, sie wusste nicht nur, dass es eine Gesetzesübertretung war, sondern es war ihr auch egal. » Noch was …« Sara schien unschlüssig, ob sie reden sollte oder nicht. » Ihre Augen. Das Weiße zeigte Einblutungen, aber es gab keine sichtbaren Hinweise auf Strangulation. Ihre Pupillen konnten nicht fokussieren. Es könnte von den Verletzungen herrühren oder etwas Neurologisches sein, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie überhaupt etwas sah.«
» Das könnte erklären, warum sie mitten auf der Straße gelaufen ist.«
» Wenn man sich überlegt, was sie durchgemacht hat …« Sara beendete den Satz nicht, aber Faith wusste genau, was sie meinte. Man musste kein Arzt sein, um zu verstehen, dass eine Frau, die durch diese Hölle gegangen war, mit Absicht vor ein fahrendes Auto lief.
Sara steckte sich Faiths Karte in ihre Manteltasche. » Ich rufe Sie in ein paar Minuten an.«
Faith sah ihr nach und fragte sich, wie, um alles in der Welt, Sara Linton im Grady Hospital hatte landen können. Sara konnte nicht mehr als vierzig Jahre alt sein, aber die Notaufnahme war etwas für junge Leute, die schreiend davonrannten, bevor sie dreißig wurden.
Sie kontrollierte noch einmal ihr Handy. Alle sechs Balken leuchteten, was bedeutete, dass das Signal stark und klar war. Vielleicht hat Will ja einen guten Grund, warum er nicht anrief. Vielleicht war sein Handy mal wieder kaputtgegangen. Andererseits hatte jeder Polizist vor Ort mit Sicherheit ein Handy, vielleicht war er deshalb wirklich ein Arschloch.
Als sie vom Tisch aufstand und zum Parkplatz ging, dachte Faith daran, dass ja auch sie selbst Will anrufen könnte, aber es gab einen Grund, warum Faith zum zweiten Mal in weniger als zwanzig Jahren schwanger und unverheiratet war, und dieser Grund war nicht, dass sie die Kommunikation mit den Männern in ihrem Leben so gut beherrschte.
4 . Kapitel
W ill stand am Eingang der Höhle und ließ einen Satz Scheinwerfer an einem Seil hinunter, damit Charlie Reed zur Spurensicherung mehr hatte als nur eine Taschenlampe. Will war nass bis auf die Knochen, obwohl es vor einer halben Stunde aufgehört hatte zu regnen. Je näher die Morgendämmerung rückte, umso kühler wurde es, aber er würde lieber auf dem Deck der Titanic stehen, als noch einmal in dieses Loch zu kriechen.
Die Scheinwerfer trafen auf dem Boden auf, und er sah ein Paar Hände sie in die Kaverne ziehen. Will kratzte sich die Arme. Sein weißes Hemd zeigte blutige Flecken an Stellen, wo die Ratten ihre Krallen in ihn geschlagen hatten, und er fragte sich, ob das Jucken ein Anzeichen für Tollwut war. Es war eine Frage, die er normalerweise Faith stellen würde. Aber er wollte sie nicht damit belästigen. Sie hatte furchtbar ausgesehen, als er das Krankenhaus verlassen hatte, und hier konnte sie nichts tun, außer neben ihm im Regen
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