Sara Linton 01 - Tote Augen
schüttelte den Kopf. » Ich habe sie zusammengerollt in einer Blechdose neben dem Stuhl gefunden.«
Will strich die Tüte auf seinen Beinen glatt und untersuchte mit der Stablampe aus Charlies Koffer den Inhalt. Es waren mindestens fünfzig Blatt Notizpapier. Jedes Blatt war vorn und hinten mit Bleistift beschrieben. Mit zusammengekniffenen Augen starrte Will die Zeilen an und versuchte, die Schrift zu entziffern. Lesen war noch nie seine Stärke gewesen. Die Buchstaben vermischten und verdrehten sich immer vor seinen Augen. Manchmal verschwammen sie so sehr miteinander, dass ihm schwindelig wurde, wenn er versuchte, die Bedeutung des Geschriebenen zu verstehen.
Charlie wusste nichts von Wills Problemen. Will versuchte, ihm ein paar Informationen zu entlocken, und fragte: » Für was halten Sie diese Notizen?«
» Es ist verrückt, nicht?« Charlie strich sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen Schnurrbart, eine nervöse Angewohnheit, die sich bei ihm nur in Stresssituationen bemerkbar machte. » Ich glaube, ich kann da nicht mehr runtergehen.« Er hielt inne und schluckte schwer. » Es fühlt sich einfach … böse an, wissen Sie? Schlicht und einfach böse. «
Will hörte Laub rascheln und Zweige brechen. Als er sich umdrehte, sah er Amanda Wagner durch den Wald stapfen. Sie war eine ältere Frau, wahrscheinlich in den Sechzigern. Sie bevorzugte strenge, einfarbige Kostüme mit Röcken bis unters Knie und Strümpfen, die erstaunlich wohlgeformte Waden zeigten für eine Frau, die Will oft für den Antichrist hielt. Ihre hohen Absätze sollten ihr das Gehen im Wald eigentlich erschweren, aber wie bei den meisten Hindernissen meisterte Amanda auch das Terrain mit stählerner Entschlossenheit.
Beide Männer richteten sich auf, als sie näher kam.
Wie üblich hielt sie sich nicht lange mit Höflichkeiten auf. » Was ist das?« Sie streckte die Hand nach der Beweismitteltüte aus. Im Gegensatz zu Faith war Amanda die einzige Person im Büro, die Bescheid wusste über Wills Leseschwierigkeiten, wobei sie sie zugleich akzeptierte und kritisierte. Will richtete die Stablampe auf die Seite, und sie las laut: » Ich werde mir nichts versagen. Ich werde mir nichts versagen. Ich werde mir nichts versagen.« Sie schüttelte die Tüte und schaute sich die übrigen Seiten an. » Vorn und hinten, überall derselbe Satz. Schreibschrift, wahrscheinlich die einer Frau.« Sie gab Will die Tüte zurück und schaute ihn mit deutlicher Missbilligung an. » Also ist euer böser Junge entweder ein wütender Lehrer oder ein Selbsthilfe-Guru.«
Dann wandte sie sich an Charlie: » Was haben Sie sonst noch gefunden?«
» Pornografie. Ketten. Handschellen. Sexspielzeuge.«
» Das sind Beweisstücke. Ich brauche Hinweise.«
Will übernahm für ihn. » Ich glaube, das zweite Opfer war unter dem Bett an Ringbolzen gefesselt. Ich habe das da im Seil gefunden.« Er zog eine kleine Beweismitteltüte aus seiner Jackentasche. Sie enthielt den Teil eines Zahns mitsamt einem Wurzelfragment. Zu Amanda sagte er: » Das ist ein Schneidezahn. Bei dem Opfer im Krankenhaus waren alle Zähne intakt.«
Sie musterte Will länger als den Zahn. » Sind Sie sich da ganz sicher?«
» Ich war direkt vor ihrem Gesicht, als ich versuchte, Informationen von ihr zu bekommen«, antwortete er. » Ihre Zähne klapperten. Sie machten ein klickendes Geräusch.«
Das schien sie zu akzeptieren. » Wie kommen Sie darauf, dass der Zahn erst kürzlich verloren wurde? Und sagen Sie mir jetzt nicht, es ist nur Ihr Bauchgefühl, Will, weil ich die gesamte Polizeitruppe des Rockdale County hier draußen in Kälte und Nässe habe, und die würden Sie am liebsten lynchen, weil Sie sie ohne triftigen Grund durch die Nacht jagen.«
» Das Seil wurde von unterhalb der Pritsche durchtrennt«, erwiderte er. » Das erste Opfer, Anna, war oben auf die Pritsche gefesselt. Das zweite Opfer war darunter. Anna hätte das Seil nicht selbst durchschneiden können.«
Amanda fragte Charlie: » Stimmen Sie dem zu?«
Noch immer erschüttert, wie er war, ließ Charlie sich Zeit mit der Antwort. » Die Hälfte der Schnittenden des Seils lagen noch unter der Pritsche. Es ist nachvollziehbar, dass sie so fallen, wenn sie von unten durchschnitten wurden. Wäre das Seil von oben durchtrennt worden, würden die Enden auf dem Boden oder auf der Pritsche liegen, nicht darunter.«
Amanda war noch immer skeptisch. Zu Will sagte sie: » Fahren Sie fort.«
» An die Ringbolzen unter der
Weitere Kostenlose Bücher