Sara Linton 01 - Tote Augen
zu stehen. Er würde ihr morgen früh alles Wesentliche berichten, nachdem sie sich gut ausgeschlafen hatte. Wenigstens einer von ihnen sollte ausgeruht sein, wenn sie die Ermittlungen begannen.
Über ihm schwirrte ein Helikopter, das Knattern vibrierte in seinen Ohren. Die Besatzung suchte mit Infrarotkameras nach dem zweiten Opfer. Die Suchtrupps waren stundenlang unterwegs gewesen und hatten die Gegend in einem Zwei-Meilen-Radius sehr sorgfältig durchkämmt. Barry Fielding war mit seinen Hunden gekommen, und in der ersten halben Stunde hatten die Tiere halb durchgedreht, dann aber die Spur verloren. Uniformierte des Rockdale County durchsuchten die Umgebung systematisch anhand eines Gitternetzes, hielten Ausschau nach weiteren unterirdischen Höhlen und Hinweisen auf eine mögliche Flucht der anderen Frau.
Vielleicht hatte sie aber gar nicht fliehen können. Vielleicht hatte ihr Peiniger sie gefunden, bevor sie Hilfe erhalten konnte. Vielleicht war sie schon vor Tagen oder Wochen gestorben. Oder sie hatte überhaupt nie existiert. Im Verlauf der Suche bekam Will den Eindruck, dass die Polizisten sich gegen ihn wandten. Einige von ihnen glaubten nicht, dass es ein zweites Opfer gab. Einige glaubten, Will jagte sie nur deshalb durch den eiskalten Regen, weil er zu dumm war, um einzusehen, dass er sich geirrt hatte.
Es gab nur eine Person, die Aufklärung liefern konnte, aber sie war noch immer im OP im Grady Hospital und kämpfte um ihr Leben. Normalerweise war der erste Schritt in einem Entführungs- oder Mordfall, das Leben des Opfers unter dem Mikroskop zu betrachten. Doch außer der Annahme, dass ihr Vorname Anna war, wussten sie rein gar nichts über die Frau. Morgen früh würde Will sich alle Vermisstenmeldungen aus der Region besorgen, aber die würden in die Hunderte gehen, und das auch noch ohne die aus Atlanta selbst, wo pro Tag etwa zwei Personen verschwanden. Wenn das Opfer aus einem anderen Staat kam, würde der Papierkram exponentiell anwachsen. Pro Jahr wurden dem FBI über eine Viertelmillion Fälle gemeldet. Erschwerend kam hinzu, dass die Fallunterlagen selten aktualisiert wurden, wenn man die Vermissten fand.
Wenn Anna bis zum Morgen noch nicht wach war, würde Will einen Techniker ins Krankenhaus schicken, um ihr die Fingerabdrücke abzunehmen. Das war, was ihre Identifizierung anging, allerdings nur ein Schuss ins Blaue. Wenn sie nicht wegen eines Verbrechens verhaftet worden war, wären ihre Abdrücke nicht gespeichert. Dennoch war schon mehr als ein Fall durch die sture Durchführung von Routinemaßnahmen gelöst worden. Will wusste seit Langem, dass auch eine winzige Chance eine Chance war.
Die Leiter an der Öffnung des Schachts schwankte, und Will hielt sie fest, während Charlie Reed nach oben kletterte. Die Wolken waren zusammen mit dem Regen verschwunden, jetzt fiel Mondlicht auf sie herab. Obwohl der Wolkenbruch aufgehört hatte, tropfte es noch hin und wieder von den Bäumen, was klang, als würde eine Katze schmatzen. Alles im Wald hatte eine merkwürdige, bläuliche Tönung, und es war jetzt so hell, dass Will Charlie auch ohne Taschenlampe sehen konnte. Der Spurensicherungstechniker streckte die Hand nach oben und ließ eine große Beweismitteltüte Will vor die Füße fallen, bevor er herausstieg.
» Scheiße«, fluchte Charlie. Sein weißer Overall war schlammverschmiert. Er zog den Reißverschluss auf, sobald er auf dem Waldboden stand, und Will sah, dass ihm das schweißnasse T-Shirt auf der Brust klebte.
Will fragte: » Alles in Ordnung?«
» Scheiße«, wiederholte Charlie und wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. » Ich kann nicht glauben … O Gott, Will.« Er beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie. Er atmete schwer, obwohl er durchtrainiert und die Kletterei nicht sehr anstrengend war. » Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
Will kannte das Gefühl.
» Da sind Folterinstrumente …« Charlie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. » Solche Sachen habe ich bis jetzt nur im Fernsehen gesehen.«
» Es gab ein zweites Opfer«, sagte Will und hob am Ende des Satzes die Stimme, damit Charlie seine Aussage als Beobachtung verstand, die eine Bestätigung benötigte.
» Ich kann mir auf gar nichts da unten einen Reim machen.« Charlie kauerte sich hin und stützte den Kopf in die Hände. » So was habe ich noch nie gesehen.«
Will kniete sich neben ihn. Er nahm die Beweismitteltüte in die Hand. » Was ist das?«
Charlie
Weitere Kostenlose Bücher