Sara Linton 01 - Tote Augen
ein. Es kamen Artikel aus der Lokalzeitung. Der Grant Observer war nicht gerade ein Kandidat für den Pulitzer-Preis. Auf der Titelseite fand sich das tägliche Kantinenmenü der Grundschule, und die größten Geschichten schienen sich um die Erfolge des Highschool-Football-Teams zu ranken. Es gab ein Foto von ihm mit Sara bei irgendeinem offiziellen Anlass. Er trug Smoking. Sie ein eng anliegendes, schwarzes Kleid. Neben ihm sah sie strahlend aus, ein ganz anderer Mensch. Merkwürdig war bei diesem Foto, dass Faith ein schlechtes Gewissen wegen ihrer heimlichen Schnüffelei in Sara Lintons Leben bekam. Auf diesem Foto sah die Ärztin so verdammt glücklich aus, als wäre alles in ihrem Leben komplett. Faith schaute sich das Datum an. Das Foto war zwei Wochen vor Tollivers Tod aufgenommen worden.
Nach dieser letzten Erkenntnis klappte Faith den Laptop zu. Sie war traurig und ärgerte sich über sich selbst. Wenigstens in dieser Hinsicht hatte Will recht – sie hätte nicht schnüffeln dürfen.
Als Strafe für ihre Sünden holte sie ihr Messgerät heraus. Ihr Blutzucker war eher hoch, und sie musste einen Augenblick überlegen, was sie jetzt tun sollte. Noch eine Nadel, noch ein Schuss. Sie schaute in ihre Tasche. Sie hatte nur noch drei Insulin-Pens übrig und keinen Termin mit Delia Wallace vereinbart, wie sie versprochen hatte.
Faith zog ihren Rock bis über den Oberschenkel hoch. Den Einstich von der Injektion, die sie sich gegen Mittag in der Toilette verpasst hatte, konnte sie noch immer sehen. Eine kleine Verfärbung umgab die Stelle, und Faith beschloss, ihr Glück lieber am anderen Bein zu versuchen. Ihre Hand zitterte nicht so sehr wie sonst, und sie musste nur bis sechsundzwanzig zählen, bis sie sich die Nadel ins Fleisch stoßen konnte. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und wartete, dass es ihr besser ging. Mindestens eine Minute verstrich, und Faith fühlte sich schlechter.
Morgen, dachte sie. Gleich als Erstes in der Früh würde sie einen Termin mit Delia Wallace vereinbaren.
Im Aufstehen schob sie sich den Rock wieder hinunter. In der Küche herrschte Chaos, im Spülbecken stapelte sich das Geschirr, der Mülleimer quoll über. Faith war nicht von Natur aus ordentlich, aber ihre Küche war im Allgemeinen makellos. Sie war zu vielen Mordtatorten gerufen worden, wo Frauen auf dem Boden ihrer schmutzigen Küchen gelegen hatten. Der Anblick löste bei Faith immer das Gefühl aus, die Frau hätte es verdient, von ihrem Freund zu Tode geprügelt, von einem Fremden erschossen zu werden, weil sie das schmutzige Geschirr im Spülbecken hatte stehen lassen.
Sie fragte sich, was Will dachte, wenn er zu einem Tatort kam. Sie hatte mit dem Mann schon unzählige Leichen gesehen, aber sein Gesicht war immer unergründlich. Will hatte seine Karriere in der Strafverfolgung beim GBI begonnen. Er hatte nie Uniform getragen, war nie wegen eines verdächtigen Geruchs gerufen worden und hatte dann eine Frau tot auf ihrer Couch gefunden, hatte nie als Streifenpolizist gearbeitet und Raser angehalten, von denen er nicht wusste, ob es nur dumme Teenager hinter dem Steuer waren oder Gangster, die ihm eher eine Waffe ins Gesicht halten und abdrücken würden, als Strafpunkte zu kassieren.
Er war einfach so verdammt passiv. Faith verstand es nicht. Trotz seines Auftretens war Will ein großer, kräftiger Mann. Er joggte jeden Tag, ob Regen oder Sonnenschein. Er trainierte mit Gewichten. Offensichtlich hatte er in seinem Garten einen Teich ausgehoben. Unter diesen Anzügen, die er trug, versteckten sich so viele Muskeln, dass sein Körper auch aus Fels gemeißelt sein könnte. Und doch hatte er am Nachmittag, Faiths Handtasche auf dem Schoß, einfach nur dagesessen und Max Galloway quasi um Informationen angebettelt. Wäre Faith an seiner Stelle gewesen, hätte sie den Idioten an die Wand gedrückt und ihm seine Hoden gequetscht, bis er alles, was er wusste, im Sopran gesungen hätte.
Aber sie war nicht Will, und Will würde so etwas nie tun. Stattdessen gab er Galloway die Hand und dankte ihm für eine professionelle Selbstverständlichkeit wie ein riesiger, einfältiger Trottel.
Sie suchte in dem Schränkchen unter dem Becken nach dem Spülmittel, fand aber nur eine leere Flasche. Sie ließ sie im Schrank stehen und ging zum Kühlschrank, um das Mittel auf die Einkaufsliste zu schreiben. Faith hatte schon drei Buchstaben geschrieben, als sie merkte, dass sie es bereits notiert hatte.
» Verdammt«, flüsterte sie
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