Sara
Sie könnte eine Kellertreppe hinunterfallen. Sie könnte sogar einen Schlaganfall bekommen, wenn sie über einen heißen Parkplatz lief.
Ich setzte mich auf und betrachtete Sara auf ihrem Hügel, die Veranda über dem Abgrund, die Stufen der Eisenbahnschwellen, die abwärts führten. Ich war erst wenige Minuten aus dem Wasser, und schon hüllte mich die stickige Hitze ein und raubte mir die Energie. Das Wasser war glatt wie ein Spiegel. Ich konnte sehen, wie das Haus darin reflektiert wurde, und in der Widerspiegelung wurden Saras Fenster zu wachsamen Augen.
Ich dachte, daß der Brennpunkt all der Phänomene - das Epizentrum - sehr wahrscheinlich auf der Straße zwischen der echten Sara und ihrem ertrunkenen Ebenbild lag. Hier ist es passiert , hatte Devore gesagt. Und die Oldtimer? Die meisten wußten wahrscheinlich, was ich wußte: daß Royce Merrill ermordet worden war. Und war es nicht möglich - war es nicht wahrscheinlich -, daß das, was ihn ermordet hatte, wieder zuschlagen würde, wenn sie auf den Bänken saßen oder sich anschließend um das Grab versammelten? Daß es einen Teil ihrer Energie stehlen würde - ihrer Schuld, ihrer Erinnerungen, ihrer TR -heit -, um seine Aufgabe zu vollenden?
Ich war sehr froh, daß John morgen an der Party teilnahm, dazu Romeo Bissonette und George Kennedy, der so amüsant sein konnte, wenn er einen oder zwei Drinks intus hatte. Froh, daß mehr als nur Mattie und Ki und ich zusammensein würden, wenn sich die Alten versammelten, um Royce Merrill die letzte Ehre zu erweisen. Mich interessierte nicht mehr besonders, was aus Sara und den Red-Tops geworden war oder was in meinem Haus spukte. Ich wollte den morgigen Tag überstehen,
und ich wollte, daß Mattie und Ki den morgigen Tag überstanden. Wir würden essen, bevor der Regen anfing, und dann würden wir die vorhergesagten Gewitter kommen lassen. Ich dachte mir, wenn wir sie überständen, konnten unser Leben und unsere Zukunft vielleicht zusammen mit dem Wetter aufklaren.
»Stimmt das?« fragte ich. Ich erwartete keine Antwort - laut zu sprechen war eine Angewohnheit, die ich mir zugelegt hatte, seit ich wieder hierhergekommen war -, aber irgendwo im Wald östlich des Hauses schrie eine Eule. Nur einmal, als wollte sie sagen, daß es wirklich stimmte, übersteht den morgigen Tag, dann wird alles aufklaren. Der Schrei der Eule rief mir fast etwas anderes ins Gedächtnis zurück, eine Assoziation, die letzten Endes zu fadenscheinig war, als daß ich sie hätte festhalten können. Ich versuchte es ein- oder zweimal, aber mir fiel lediglich der Titel eines wunderbaren alten Romans ein - I Heard the Owl Call My Name .
Ich rollte mich vorwärts vom Floß ins Wasser, wobei ich die Knie an die Brust gedrückt hielt wie ein Kind, das eine Bombe macht. Ich blieb, so lange ich konnte, unter Wasser, bis sich die Luft in meinen Lungen wie eine heiße, in Flaschen abgefüllte Flüssigkeit anfühlte, dann kam ich wieder an die Oberfläche. Ich strampelte etwa dreißig Meter weit draußen auf der Stelle, bis ich wieder Luft bekam, dann visierte ich die Grüne Lady an und schwamm ans Ufer.
Ich watete hinaus, ging die Eisenbahnschwellen hinauf, blieb stehen und kehrte zur Straße zurück. Dort blieb ich einen Moment stehen, nahm meinen Mut zusammen und ging zu der Stelle, wo die Birke anmutig ihren Bauch über das Wasser wölbte. Ich hielt mich wie am Freitag abend an der weißen Krümmung fest und sah ins Wasser. Ich war überzeugt, ich würde das Kind sehen, die toten Augen, die aus dem aufgedunsenen braunen Gesicht zu mir aufschauten, und mein Mund und Hals würden sich wieder mit dem Geschmack des Sees füllen: Hilf ich ertrink, laß mich rauf, oh gütiger Gott, laß mich rauf . Aber da war nichts. Kein toter Junge, kein mit einem Band geschmückter Gehstock der Boston Post , kein Geschmack des Sees in meinem Mund.
Ich drehte mich um und betrachtete die graue Stirn aus Felsgestein, die aus dem Erdreich ragte. Ich dachte: Da, genau da , aber es war nur ein bewußter, nicht spontaner Gedanke, mein Verstand, der eine Erinnerung formulierte. Der Geruch von Verfall und die Gewißheit, daß genau dort etwas Schreckliches geschehen war, waren verschwunden.
Als ich zum Haus zurückkam und mir eine Limo holen ging, stellte ich fest, daß die Kühlschranktür leer war. Jeder Magnetbuchstabe, das ganze Obst und Gemüse waren verschwunden. Ich habe sie nie wiedergefunden. Vielleicht hätte ich sie gefunden, wahrscheinlich sogar, wenn ich
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