Sara
unheimlich.«
»Ich denke, vielleicht …« Einen Augenblick war ich versucht, ihr zu sagen, was mit meinen eigenen Buchstaben passiert war. Aber wenn ich damit anfing, wo sollte ich aufhören? Und wieviel würde sie mir glauben? »… vielleicht hat Ki die Buchstaben selbst abgenommen. Hat sie schlafwandelnd unter dem Wohnwagen versteckt oder so. Hältst du das für möglich?«
»Ich glaube, die Vorstellung, daß Ki schlafwandelt, gefällt mir noch weniger als der Gedanke, daß Gespenster mit kaltem Atem die Buchstaben vom Kühlschrank genommen haben«, sagte Mattie.
»Nimm sie heute nacht zu dir ins Bett«, sagte ich und spürte ihren Gedanken wie einen Pfeil: Ich würde lieber dich mit ins Bett nehmen .
Nach einer kurzen Pause sagte sie allerdings: »Kommst du heute vorbei?«
»Ich glaube nicht«, sagte ich. Sie aß einen Fruchtjoghurt, während wir uns unterhielten, nahm ihn in kleinen Häppchen zu sich. »Aber morgen wirst du mich sehen. Bei der Party.«
»Ich hoffe, die Gewitter kommen erst, wenn wir gegessen haben. Sie sollen ziemlich schlimm werden.«
»Ich bin sicher, wir sind vorher mit dem Essen fertig.«
»Und denkst du immer noch nach? Ich frage nur, weil ich von dir geträumt habe, als ich gestern endlich wieder eingeschlafen bin. Ich habe geträumt, daß du mich küßt.«
»Ich denke noch nach«, sagte ich. »Ganz intensiv.«
Aber in Wahrheit kann ich mich nicht erinnern, daß ich an diesem Tag sehr intensiv an irgendwas gedacht habe. Ich erinnere mich nur, daß ich immer tiefer in die Zone geriet, die ich so unzureichend beschrieben habe. Vor Einbruch der Dämmerung machte ich trotz der Hitze einen langen Spaziergang - bis zu der Stelle, wo der Weg zweiundvierzig in den Highway mündet. Auf dem Rückweg blieb ich am Rand von Tidwell’s Meadow stehen, sah das Licht am Himmel verblassen und hörte irgendwo über New Hampshire Donner grollen. Wieder hatte ich das Gefühl, wie dünn die Realität war, nicht nur hier, sondern überall; daß sie straff wie Haut über Blut und Bindegewebe eines Körpers gespannt war, den wir in diesem Leben niemals ganz erforschen können. Ich betrachtete Bäume und sah Arme; ich betrachtete Büsche und sah Gesichter. Gespenster, hatte Mattie gesagt. Gespenster mit kaltem Atem.
Mir schien, als wäre auch die Zeit dünn. Kyra und ich waren wirklich auf dem Jahrmarkt in Fryeburg gewesen - jedenfalls auf einer Version davon; wir hatten das Jahr 1900 tatsächlich besucht. Und am Fuß der abschüssigen Wiese waren die Red-Tops jetzt fast da, wie früher, in ihren hübschen kleinen Hütten. Fast konnte ich den Klang ihrer Gitarren hören, ihre murmelnden Stimmen und ihr Gelächter; ich konnte beinahe den Lichtschein ihrer Laternen sehen und ihr gebratenes Rind- und Schweinefleisch riechen. › Say, baby, do you remember me? ‹ ging einer ihrer Songs, › Well I ain’t your honey like I used to be .‹
Etwas raschelte im Unterholz links von mir. Ich wandte mich in diese Richtung und rechnete damit, Sara in Matties weißem Kleid und Matties Turnschuhen aus dem Wald treten zu sehen. Im Halbdunkel würde es fast so aussehen, als ob sie schwebte, bis sie ganz nahe bei mir war …
Natürlich war niemand da, zweifellos war es kein anderer gewesen als Chuck das Murmeltier, das nach einem langen und anstrengenden Tag im Büro nach Hause ging, aber ich wollte nicht mehr da draußen sein und zusehen, wie das Licht aus dem Tag floß und Nebel vom Boden aufstieg. Ich machte mich auf den Heimweg.
Anstatt ins Haus zu gehen, als ich zurückkam, folgte ich dem Waldweg zu Jos Atelier, wo ich seit der Nacht nicht mehr gewesen war, als ich mir im Traum meine IBM wiedergeholt hatte. Unregelmäßiges Wetterleuchten wies mir den Weg.
Es war heiß in dem Atelier, aber nicht stickig. Ich konnte ein pfeffriges Aroma riechen, das sogar recht angenehm war, und fragte mich, ob es welche von Jos Kräutern sein mochten. Es gab eine Klimaanlage hier, und die funktionierte - ich schaltete sie ein und stellte mich einfach eine Weile davor. Soviel kalte Luft auf meinem überhitzten Körper war wahrscheinlich ungesund, fühlte sich aber wundervoll an.
Ansonsten aber fühlte ich mich nicht besonders wundervoll. Ich sah mich mit einem schwer definierbaren Gefühl um, das immer stärker wurde und zu schwer für bloße Traurigkeit war; es schien Verzweiflung zu sein. Ich glaube, die Ursache war der Kontrast zwischen dem bißchen, das von Jo in Sara Lacht übrig war, und der Menge, das von ihr
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