Sara
gejagt haben? Sind sie böse?«
»Ich weiß es wirklich nicht, Ki, und das ist die Wahrheit.«
»Aber wir werden es rauskriegen?«
»Hm?«
»Das hast du gedacht. ›Aber wir werden es rauskriegen.‹«
»Ja«, sagte ich. »Ich schätze, das hab’ ich gedacht. Etwas in der Art.«
Ich ging mit ihr ins Schlafzimmer, während das Wasser im Kessel heiß wurde, und dachte, daß etwas von Jo übrig sein mußte, in das ich sie wickeln konnte, aber sämtliche Schubladen in Jos Kommode waren leer. Ebenso ihre Seite des Schranks. Ich stellte
Ki auf das große Doppelbett, in dem ich seit meiner Rückkehr nicht einmal ein Nickerchen gemacht hatte, zog ihr die nassen Sachen aus, trug sie ins Bad und wickelte sie in ein Badetuch. Sie schlang es selbst um sich, zitternd und mit blauen Lippen. Ich nahm ein anderes, um ihr Haar so gut wie möglich abzutrocknen. Dabei ließ sie die ganze Zeit nicht einmal den Plüschhund los, aus dessen Nähten inzwischen die Füllung blutete.
Ich machte das Arzneischränkchen auf, suchte und fand auf dem obersten Regal, was ich suchte: das Benadryl, das Jo wegen ihrer Ambrosiapflanzenallergie aufbewahrt hatte. Ich dachte kurz daran, das Verfallsdatum auf der Unterseite der Packung zu prüfen, und hätte fast laut aufgelacht. Was hätte das für einen Unterschied gemacht? Ich stellte Ki auf den heruntergeklappten Toilettendeckel und ließ sie sich um meinen Nacken festhalten, während ich die kindersichere Hülle von vier der kleinen weiß-rosa Kapseln abstreifte. Dann spülte ich das Zahnputzglas aus und füllte es mit kaltem Wasser. Während ich das tat, sah ich eine Bewegung im Badezimmerspiegel, in dem die Tür und das angrenzende Schlafzimmer reflektiert wurden. Ich sagte mir, daß ich nur die Schatten der windgepeitschten Bäume sah. Ich hielt Ki die Tabletten hin. Sie streckte die Hand danach aus, dann zögerte sie.
»Los«, sagte ich. »Das ist Medizin.«
»Was für eine?« fragte sie. Ihre kleine Hand hing immer noch über dem kleinen Häufchen Kapseln.
»Traurigkeitsmedizin«, sagte ich. »Kannst du Tabletten schlucken, Ki?«
»Klar. Hab’ ich mir schon mit zwei beigebracht.«
Sie zögerte noch einen Moment - sah mich an und sah in mich hinein , glaube ich, um sich zu vergewissern, daß ich ihr etwas sagte, was ich wirklich glaubte. Was sie sah oder spürte, schien sie zufriedenzustellen, denn sie nahm die Kapseln und schob sie in den Mund, eine nach der anderen. Sie schluckte sie mit kleinen Vogelschlucken aus dem Glas, dann sagte sie: »Ich fühl’ immer noch traurig, Mike.«
»Es dauert eine Weile, bis sie wirken.«
Ich kramte in meiner Hemdenschublade und fand ein altes Harley-Davidson-T-Shirt, das eingelaufen war. Es war immer
noch Meilen zu groß für sie, aber als ich auf einer Seite einen Knoten hineinmachte, bildete es eine Art von Sarong, der ihr immer von einer Schulter rutschte. Es war fast niedlich.
Ich habe einen Kamm in der Gesäßtasche. Den holte ich heraus und kämmte ihr das Haar aus Stirn und Schläfen zurück. Sie sah allmählich wieder gefaßter aus, aber etwas fehlte immer noch. Etwas, das ich im Geiste mit Royce Merrill in Verbindung brachte. Das war verrückt … oder nicht?
»Mike? Was für ein Stock? An was für einen Stock denkst du dran?«
Dann fiel es mir ein. »Kein Stock, eine Stange, eine Zuckerstange«, sagte ich. »Mit Streifen.« Ich holte die beiden weißen Bänder aus der Tasche. In dem wechselhaften Licht sahen ihre roten Ränder fast roh aus. »Wie die hier.« Ich band ihr das Haar zu zwei kleinen Pferdeschwänzen zurück. Jetzt hatte sie ihre Bänder; sie hatte ihren schwarzen Hund; die Sonnenblumen standen nun ein paar Meter nördlich, aber sie waren da. Alles war mehr oder weniger so, wie es sein sollte.
Donner grollte, irgendwo in der Nähe stürzte ein Baum um, die Lichter gingen aus. Nach fünf Sekunden dunkelgrauer Schatten gingen sie wieder an. Ich trug Ki in die Küche zurück, und als wir an der Kellertür vorbeikamen, lachte etwas dahinter. Ich hörte es; Ki auch. Ich konnte es in ihren Augen sehen.
»Kümmere dich um mich«, sagte sie. »Kümmere dich um mich, weil ich noch klein bin. Du hast es versprochen.«
»Mach ’ ich.«
»Ich hab’ dich lieb, Mike.«
»Ich dich auch, Ki.«
Der Kessel pfiff. Ich füllte die Tasse zur Hälfte mit heißem Wasser, die restliche Hälfte mit Milch, damit der Kakao kühler und voller im Geschmack wurde. Ich trug Kyra zur Couch. Als wir am Eßzimmertisch vorbeikamen, sah ich zu
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