Sara
die einzige Möglichkeit, er hat versucht, sie zu retten, es war die einzige Möglichkeit. Ich strecke die Hände nach ihr aus, immer wieder strecke ich die Hände nach ihr aus, nach meinem Kind, meiner Tochter, meiner Kia (sie sind alle Kia, sowohl die Jungen wie auch die Mädchen, alle meine Tochter), und jedesmal gehen meine Arme durch sie hindurch. Schlimmer - oh, viel schlimmer -, ist aber, daß sie inzwischen nach mir greift, ihre gesprenkelten Arme schweben mir entgegen, flehen darum, gerettet zu werden. Ihre umhertastenden Hände schmelzen durch meine. Wir können uns nicht berühren, denn jetzt bin ich der Geist. Ich bin der Geist, und während ihre Bewegungen schwächer werden, merke ich, daß ich nicht ich kann nicht oh ich konnte nicht atmen - ich war am Ertrinken.
Ich beugte mich ruckartig vornüber, machte den Mund auf, und diesmal kam ein großer Schwall Seewasser heraus und ergoß sich über die Plastikeule, die neben meinen Knien auf
der Palette lag. Ich drückte das Kästchen mit JOS KLEINIGKEITEN an die Brust, weil ich nicht wollte, daß der Inhalt naß wurde, und die Bewegung löste ein weiteres Würgen aus. Diesmal floß mir kaltes Wasser aus Mund und Nase. Ich holte einmal tief Luft und hustete es aus.
»Das muß ein Ende haben«, sagte ich, aber natürlich war es das Ende, so oder so. Weil Kyra die letzte war.
Ich stieg die Stufen zum Atelier hinauf, setzte mich auf den mit allem möglichen Zeug übersäten Boden, um wieder zu Atem zu kommen. Draußen hallte Donner, fiel Regen, aber ich hatte den Eindruck, daß der Sturm den Gipfelpunkt seiner Wut überschritten hatte. Vielleicht hoffte ich es auch nur.
Ich saß da und ließ die Beine in die Öffnung baumeln - es waren keine Gespenster mehr da, die meine Knöchel berühren konnten, ich weiß nicht, woher ich das wußte, aber ich wußte es -, und zog die Gummibänder ab, die die Stenoblocks zusammenhielten. Ich schlug den ersten auf, blätterte ihn durch und sah, daß er fast vollständig mit Jos Handschrift beschrieben worden war, dazwischen eine Anzahl zusammengelegter einzeilig betippter Seiten (Type Courier natürlich): die Früchte ihrer heimlichen Ausflüge ins TR in den Jahren 1993 und 1994. Weitgehend bruchstückhafte Notizen, und Transkriptionen von Tonbändern, die noch irgendwo unter mir in dem Lagerraum liegen mochten. Vielleicht zusammen mit dem Videorecorder und dem Achtspurtonband eingemottet. Aber ich brauchte sie nicht. Wenn die Zeit kam - falls die Zeit kam -, würde ich den größten Teil der Geschichte hier finden, da war ich sicher. Was passiert war, wer es getan hatte, wie es vertuscht worden war. Im Augenblick kümmerte mich das nicht. Im Augenblick wollte ich nur dafür sorgen, daß Kyra in Sicherheit war und in Sicherheit blieb. Und es gab nur einen Weg, das zu garantieren.
Ausgelaugt in Frieden ruhen.
Ich versuchte, die Gummibänder wieder um die Stenoblocks zu schlingen, und dabei rutschte mir das, in das ich nicht hineingesehen hatte, aus der nassen Hand und fiel zu Boden. Ein herausgerissener Streifen grünen Papiers fiel heraus. Ich hob ihn auf und sah folgendes:
Einen Augenblick lang trat ich aus jenem seltsam gesteigerten Bewußtseinszustand heraus, in dem ich gelebt hatte; die Welt fiel in ihre gewohnten Dimensionen zurück. Aber alle Farben waren irgendwie zu kräftig, Gegenstände zu nachdrücklich präsent . Ich kam mir vor wie ein Soldat auf einem Schlachtfeld, das plötzlich von einer grellen weißen Leuchtkugel erhellt wird, die alles zeigt.
Die Vorfahren meines Vaters stammten aus The Neck, damit hatte ich recht gehabt; diesem Zettel zufolge war mein Großvater James Noonan, und der hatte nie in dieselbe Latrine wie Jared Devore geschissen. Max Devore hatte entweder gelogen, als er Mattie das gesagt hatte … oder er war falsch informiert gewesen … oder einfach nur verwirrt, wie das bei Leuten häufig vorkommt, wenn sie über achtzig sind. Selbst ein Mann wie Devore, der weitgehend klar geblieben war, konnte von einem gelegentlichen Aussetzer heimgesucht worden sein. Und so weit daneben hatte er gar nicht gelegen. Denn diesem kleinen Stammbaum zufolge hatte mein Urgroßvater eine ältere Schwester namens Bridget gehabt. Und Bridget war verheiratet mit - Benton Auster.
Ich glitt mit dem Finger eine Zeile tiefer zu Harry Auster. Geboren als Sohn von Benton Auster und Bridget Noonan im Jahr 1885.
»Herr im Himmel«, flüsterte ich. »Kenny Austers Großvater war mein Großonkel. Und er war einer
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