Sarah Maclean
wurde sie sich bewusst, dass sie ihr
graustes, eintönigstes und jetzt sicher auch schmutzigstes Kleid
trug und man ihr vermutlich ansah, dass sie ein Bad und etwas
Schlaf dringend nötig hatte.
Er konnte einen wirklich und wahrhaftig zur Weißglut trei-
ben.
„Ich möchte unser Gespräch von gestern Abend fortführen."
Sie antwortete nicht, hob stattdessen ein paar Bücher vom
Boden auf.
Er beobachtete sie reglos, als legte er sich seine nächsten Wor-
te sehr genau zurecht. Sie wartete, räumte dabei die Bücher
langsam ein, wünschte, er würde nichts sagen. Hoffte, er würde
einfach aufgeben und den Raum verlassen.
Doch er trat zu ihr, ließ ihr kaum Platz in dem beengten Raum
neben dem Regal. „Callie, ich kann mich gar nicht genug ent-
schuldigen." Seine Stimme war ruhig, aufrichtig.
Bei seinen Worten schloss sie kurz die Augen, ließ die Fin-
ger über die Bücherrücken gleiten. Sie sah die Buchstaben,
die Goldlettern, konnte sie aber nicht lesen. Während sie tief
durchatmete, wappnete sie sich gegen die Gefühle, die sie zu
überwältigen drohten. Entschlossen schüttelte sie den Kopf,
schaute ihn dabei aber nicht an - das wagte sie nicht. „Bitte
entschuldige dich nicht", flüsterte sie. „Dazu besteht keinerlei
Grund."
„Natürlich besteht dazu Grund. Mein Verhalten war verwerf-
lich." Er wedelte mit der Hand. „Wichtiger jedoch ist nun, dass
ich die Sache sofort in Ordnung bringe."
Was er damit sagen wollte, war klar. Callie schüttelte noch
einmal den Kopf. „Nein", sagte sie leise.
„Wie bitte?" Seine Überraschung war offensichtlich.
Sie räusperte sich, bemühte sich, ihre Stimme diesmal fester
klingen zu lassen.
„Nein. Es gibt keine Sache, die in Ordnung zu bringen wäre."
Er lachte ungläubig auf. „Das kann nicht dein Ernst sein."
Entschlossen straffte sie die Schultern und schob sich vor-
bei an ihm in den lichten mittleren Bereich der Bibliothek. Sie
wischte sich die Hand an ihrem Kleid ab und sortierte angele-
gentlich einen Stapel Bücher auf einem Tisch, ohne im Gerings-
ten auf Titel und Autorennamen zu achten. „Mein voller Ernst.
Du glaubst, du hättest irgendeine Untat begangen, aber ich ver-
sichere dir, das ist keineswegs der Fall."
Er fuhr sich durch die Haare; seine Miene verriet inzwischen
eine gewisse Gereiztheit. „Callie, ich habe dich kompromittiert.
Und zwar gründlich. Und nun möchte ich das gern wieder in
Ordnung bringen. Wir werden heiraten."
Sie schluckte und sah ihn nicht an - aus Angst, sie könn-
te weich werden. „Nein, mein Guter, werden wir nicht." Diese
Worte waren vielleicht die schwersten, die sie je ausgesprochen
hatte. „Nicht dass ich deinen Heiratsantrag nicht zu schätzen
wüsste", fügte sie höflich hinzu.
Er wirkte ganz und gar verwirrt. „Warum nicht?"
„Warum was?"
„Warum willst du mich nicht heiraten?"
„Nun, zum einen hast du mich nicht gefragt. Du hast es ein-
fach verkündet."
Er sah zur Decke, als wollte er Geduld herabflehen. „Also
schön. Willst du mich heiraten?"
Die Worte riefen in Callie einen traurigen Nervenkitzel her-
vor. Ob er nun dazu gezwungen war oder nicht - ein Heiratsan-
trag vom Marquess of Ralston rangierte auf ihrer Liste wunder-
barer Momente ganz oben. Ein echter Glanzpunkt.
„Nein. Aber vielen Dank, dass du gefragt hast."
„Von allen albernen ..." Er beherrschte sich. „Möchtest du,
dass ich vor dir niederknie?"
„Nein!" Callie konnte sich nicht vorstellen, dass sie es ertra-
gen könnte, wenn er vor ihr niederkniete, um sie um ihre Hand
zu bitten. Das wäre ein wirklich grausamer Scherz des Univer-
sums.
„Wo zum Teufel liegt das Problem?"
Das Problem ist, dass du mich gar nicht willst. „Ich sehe ein-
fach keinen Grund, warum wir heiraten sollten."
„Du siehst keinen Grund", wiederholte er, wie um diese Wor-
te auszuprobieren. „Ich könnte mir vorstellen, dass ich dir ein,
zwei ziemlich gute Gründe nennen kann."
Endlich sah sie ihm in die Augen und wurde von der Über-
zeugung, die sie dort erkannte, ein wenig aus dem Gleichge-
wicht gebracht. „Bestimmt hast du nicht jeder Frau, die du
kompromittiert hast, einen Heiratsantrag gemacht. Warum bei
mir damit anfangen?"
Bei dieser gewagten Bemerkung weiteten sich seine Augen
schockiert. Bald darauf jedoch wich dieses Gefühl aufkeimen-
der Verärgerung. „Lass uns das doch ein für alle Mal klären.
Offenbar hältst du mich für weitaus verderbter, als ich
Weitere Kostenlose Bücher