Sarah Maclean
mangelte an Callie.
Und die Aussicht, zu einem Leben ohne sie zurückzukehren,
war einfach trostlos.
Stundenlang irrte er nun schon durch die Straßen, war ge-
dankenverloren mehrfach an Ralston House vorbeigegangen.
Sein Mantel war vollkommen durchnässt, als er endlich aufsah,
nur um festzustellen, dass er vor Allendale House stand. Das
Haus lag im Dunkeln, bis auf ein Licht in einem Zimmer, das
auf den Garten hinausging. Lange stand Ralston da und be-
trachtete das goldene Leuchten.
Dann war die Entscheidung gefallen.
Er klopfte an, und als der alte Butler, den er schon einmal
überrannt hatte, die Tür öffnete und ihn erschrocken anstarrte,
hatte Ralston nur eines zu sagen: „Ich möchte Ihren Dienst-
herrn sehen."
Der Butler schien zu spüren, dass die Angelegenheit äußerst
wichtig war, denn er wies weder darauf hin, wie spät es war,
noch behauptete er, der Earl of Allendale sei nicht zu Hause.
Stattdessen bat er Ralston lediglich zu warten und schlurfte
davon, um den Besucher anzumelden.
Im Handumdrehen war er wieder da, nahm Raistons tropfen-
den Mantel und den Hut entgegen und bedeutete ihm, das Ar-
beitszimmer des Earls zu betreten. Ralston trat in den großen,
hell erleuchteten Raum und schloss die Tür hinter sich. Bene-
dick lehnte an einem großen Schreibtisch aus Eiche, eine Brille
auf der Nasenspitze, und las in einem Bündel Papiere. Er sah
auf, als die Tür klickend geschlossen wurde. „Ralston", begrüß-
te er den Marquess.
Ralston neigte den Kopf. „Danke, dass Sie mich empfangen
haben."
Benedick lächelte und legte die Papiere auf den Schreibtisch.
„Mein Abend hat sich, ehrlich gesagt, ziemlich langweilig ge-
staltet. Sie bieten mir eine willkommene Abwechslung."
„Ich bin nicht sicher, ob Sie immer noch so denken, nachdem
ich Ihnen gesagt habe, warum ich gekommen bin."
Der Earl hob eine Augenbraue. „Na, dann sollten Sie gleich
mal damit herausrücken, finden Sie nicht?"
„Ich habe Ihre Schwester kompromittiert."
Zuerst war nicht zu erkennen, ob Benedick Raistons Ge-
ständnis überhaupt gehört hatte. Er bewegte sich nicht, wand-
te auch nicht den Blick von seinem Gast. Dann aber richtete er
sich zu seiner vollen Größe auf, setzte die Brille ab und legte sie
auf die Papiere, die er eben auf dem Schreibtisch abgelegt hat-
te, und ging auf Ralston zu.
Er baute sich vor ihm auf und meinte: „Ich nehme an, dass Sie
von Callie reden?"
Raistons Blick wankte nicht. „Ja."
„Und vermutlich übertreiben Sie die Situation auch nicht."
„Nein. Ich habe sie kompromittiert. Gründlich."
Benedick nickte nachdenklich und hieb ihm dann die Faust
ins Gesicht.
Ralston sah den Schlag nicht kommen: er taumelte rückwärts
und hielt sich die schmerzende Wange. Als er sich wieder auf-
richtete, schüttelte Benedick die Hand aus. Er sagte entschul-
digend: „Musste leider sein."
Ralston nickte ruhig und tastete die zarte Haut um sein Auge
ab. „Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet."
Benedick ging zu einem niedrigen Tisch und goss ihnen zwei
Gläser Whisky ein. Eines davon bot er Ralston an und sagte:
„Sie sollten mir besser die ganze Geschichte erzählen."
Ralston nahm das Glas entgegen und meinte: „Eigentlich ist
es ganz einfach. Ich habe Ihre Schwester kompromittiert und
möchte sie gern heiraten."
Benedick setzte sich in einen großen Ledersessel und muster-
te Ralston scharf. „Wenn es so einfach ist, warum kommen Sie
dann klatschnass mitten in der Nacht in mein Haus?"
Ralston setzte sich dem Earl gegenüber und sagte: „Nun, ver-
mutlich ist es für mich einfach."
„Ah." Benedick begann zu verstehen. „Callie hat Sie abge-
wiesen."
„Ihre Schwester kann einen zur Weißglut treiben."
„Ja, sie neigt dazu."
„Sie will mich nicht heiraten. Und so bin ich hergekommen,
um Sie tun Hilfe zu bitten."
„Natürlich wird sie Sie heiraten", erklärte Benedick, und
eine Welle der Erleichterung überlief Ralston - weitaus macht-
voller, als er sich eingestehen wollte. „Aber ich werde sie nicht
dazu zwingen. Sie müssen sie schon davon überzeugen."
Die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. „Ich habe es
versucht. Sie ist Vernunftgründen nicht zugänglich."
Benedick lachte, als er die Überraschung und Verärgerung in
Raistons Stimme hörte. „Da höre ich jemanden reden, der ohne
Schwestern aufgewachsen ist. Die sind Vernunftgründen nie
zugänglich."
Ralston lächelte ein wenig. „Ja, das wird mir
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