Sarah Maclean
nicht recht vor wie eine Familie, nicht?"
Schuldbewusst verzog Juliana das Gesicht. „Ist es so offen-
sichtlich?"
Callie schüttelte den Kopf. „Nein."
„Ich glaube nicht, dass sie mich mögen."
Callie widersprach entschieden. „Unmöglich. Sie sind eine
äußerst liebenswerte junge Frau. Ich zum Beispiel genieße Ihre
Gesellschaft sehr."
Juliana lächelte schief und meinte: „Ich glaube, Nicholas hat
sich inzwischen für mich erwärmt. Aber Ralston ..." Sie sah
Callie in die Augen und erklärte leise: „Er lächelt nicht."
Callie streckte die Hand aus und legte sie auf Julianas Arm.
„Darauf würde ich nicht allzu viel geben. Ich glaube, ich könnte
an den Fingern einer Hand abzählen, wie oft ich Ralston habe
lächeln sehen." Und das lag garantiert nicht daran, dass sie ihn
nicht genug beobachtet hätte.
Juliana senkte den Blick, betrachtete ein paar Momente Cal-
lies Hand auf ihrem Arm und legte ihre eigene Hand dann auf
Callies. Als sie den Blick wieder hob, las Callie Zweifel darin.
„Ich bereite ihm ziemlich viele Schwierigkeiten, meinen Sie
nicht? Die verwaiste Tochter der Frau, die sie alle einst verlas-
sen hatte, taucht hier auf und sucht eine neue Familie."
Callie wusste, dass sie diese unangemessene Unterhaltung ei-
gentlich beenden sollte, schließlich gingen sie die Privatange-
legenheiten der Raistons nichts an. Doch sie konnte sich nicht
helfen. „Keine neue Familie. Eine alte", korrigierte sie. „Eine,
zu der Sie immer gehört haben ... Sie mussten einfach Ihren
Platz darin beanspruchen."
Juliana schüttelte den Kopf. „Nein. Sie wissen nichts von mir.
Ich erinnere sie doch vor allem an unsere Mutter. Sie ist unsere
einzige Verbindung. Ich bin mir sicher, dass Ralston nur sie vor
Augen hat, wenn er mich ansieht. Bestimmt ist er froh, wenn ich
in zwei Monaten wieder abreise."
Obwohl die Mutter in ihr immense Neugier weckte, sah Cal-
lie davon ab, sich eingehender nach der Frau zu erkundigen, die
drei so bemerkenswerte Kinder herzlos verlassen hatte. Statt-
dessen sagte sie: „Jetzt kennen Ihre Brüder Sie noch nicht, aber
sie werden Sie näher kennenlernen, Juliana. Und sie werden
Sie lieben. Ich könnte mir vorstellen, dass sie damit schon be-
gonnen haben. Bestimmt werden sie Sie in zwei Monaten nicht
ziehen lassen. Und selbst wenn sie es erlaubten, hoffe ich, dass
Sie ihre Meinung ändern und bleiben."
Julianas strahlend blaue Augen füllten sich mit Tränen. „Sie-
ben Wochen und sechs Tage."
Vor Mitgefühl mit der jungen Frau wollte es Callie schier das
Herz abdrücken. Sie lächelte weich. „Wirklich, nachdem ich ei-
nen Nachmittag mit Ihnen verbracht habe, stelle ich fest, dass
mir auch schon wichtig ist, was aus Ihnen wird. Ich glaube, wir
werden sehr gute Freundinnen werden."
Juliana schenkte ihr ein Lächeln unter Tränen. Dann atmete
die junge Frau tief durch, richtete sich auf und wischte sich die
Tränen aus den Augen. „Sind Sie schon lang mit meinem Bru-
der befreundet?"
Callie erstarrte. „Befreundet?"
„Si. Es ist klar, dass Ralston viel von Ihnen hält und Sie als
Freundin betrachtet. Er war heute Morgen sehr erpicht darauf,
mir mitzuteilen, dass er Ihre Zustimmung erlangt hat, mich in
die Gesellschaft einzuführen. Wenn Sie nicht mit ihm befreun-
det wären, warum sollten Sie dann hier sein und Ihren eigenen
Ruf riskieren, indem Sie mir durch jedes einzelne Fettnäpfchen
helfen?"
Callie wusste, dass sie die Wahrheit nicht sagen konnte. Se-
hen Sie, Juliana, im Leben einer Frau gibt es einen Punkt, an
dem sie für einen Kuss einfach alles tun würde. Sie hielt inne,
suchte nach Worten. Juliana missverstand die Bedeutung ihres
Schweigens.
„Ah", meinte sie vielsagend. „Verstehe. Sie sind mehr als eine
Freundin, si?"
Callies Augen weiteten sich. „Was meinen Sie denn damit?"
„Sie sind seine ..." Juliana dachte einen Augenblick nach,
suchte nach der korrekten Vokabel. „Seine inamoratal"
„Wie bitte?" Die Frage endete in einem erstickten Quietschen.
„Seine Geliebte, ja?"
„Juliana!" Nun übernahm die Empörung die Führung, und
Callie richtete sich zu einer höchst königlichen Pose auf und
sprach in ihrem besten Gouvernantenton. „Mit einem Gast
spricht man nicht über Geliebte oder inamoratas oder über-
haupt über persönliche Dinge!"
„Aber Sie sind doch nicht nur ein Gast!" Juliana wirkte ver-
wirt. „Sie sind doch meine Freundin, oder?"
„Natürlich bin ich das. Aber
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