Sarah Maclean
das liebreizende Gesicht der Göttin zierte, von der flie-
ßenden Bewegimg, in Marmor festgehalten. Sie bewunderte den
Faltenfall des Kleides, streckte die Hand danach aus, halb in
der Erwartung, warmen Stoff zu spüren statt kühlen Stein, als
von der Tür eine Stimme erklang.
„Sie ist wunderschön, nicht wahr?"
Mit einem erschrockenen Aufkeuchen drehte Callie sich um.
In der Tür stand Ralston und warf ihr ein verwegenes Grinsen
zu, als amüsierte ihn ihr Unbehagen.
Nein - es war gar nicht Ralston.
Der Mann in der Tür war Lord Nicholas St. John, ebenso groß
und breitschultrig wie Ralston, mit demselben gemeißelten
Kinn und den glitzernden blauen Augen. Nur in einem unter-
schied er sich von seinem Zwillingsbruder: Seine rechte Wange
war von einer Narbe gezeichnet, einer langen, dünnen weißen
Linie, die sich weiß von dem gebräunten Teint abhob und so gar
nicht zu dem restlichen Mann passen wollte, einem untadeligen
Gentleman. Eigentlich hätte die Narbe St. John eine gefährli-
che Aura verleihen sollen, doch stattdessen ließ sie ihn nur noch
verführerischer wirken. Callie hatte schon gesehen, wie ehrba-
re Damen des ton sich wie die reinsten Gänschen aufführten,
wenn er in ihrer Nähe war - etwas, was er jedoch gar nicht mit-
zubekommen schien.
„Lord Nicholas", sagte sie mit einem Lächeln und neigte den
Kopf. Er ging zu ihr, nahm ihre Hand und verneigte sich tief.
„Lady Calpurnia", sagte er und lächelte warmherzig, „wie
ich sehe, haben Sie meine Freundin entdeckt." Nicholas deutete
auf die Statue.
„Allerdings." Callie sah wieder zu der Marmorfigur. „Sie ist
atemberaubend. Wer hat sie denn geschaffen?"
St. John schüttelte den Kopf. Ein Glitzern in seinem Blick
verriet, wie stolz er auf seinen Schatz war. „Das ist nicht be-
kannt. Ich habe sie an der Südküste von Griechenland gefun-
den. Vor einigen Jahren verbrachte ich dort sieben Monate auf
der Suche nach Marmorstatuen. Ich schleppte viel zu viele mit
nach Hause und ließ diese Schönheit nach Ralston House brin-
gen, unter der Voraussetzung, dass mein Bruder ihr ein ordent-
liches Heim bietet." Er hielt inne, fasziniert von der Statue.
„Ich glaube, es handelt sich um Selene, die Göttin des Monds."
„Sie wirkt so zufrieden."
„Das überrascht Sie?"
„Nun ja", meinte Callie zögernd, „Selenes Geschichte ist
nicht besonders glücklich. Schließlich ist sie dazu verdammt,
einen Sterblichen zu lieben, der ewig schlief."
St. John sah sie anerkennend an. „Daran war sie selbst schuld.
Sie hätte doch wissen müssen, dass man Zeus lieber nicht um
einen Gefallen bittet. Das geht nie gut aus."
„Dessen war Selene sich vermutlich bewusst, als sie ihren
Gefallen bekam. Ich nehme an, die Statue zeigt Selene, bevor
Zeus sich einmischte."
„Sie vergessen", sagte St. John mit neckendem Glitzern im
Blick, „dass sie und Endymion trotz seiner Schläfrigkeit fünf-
zig Kinder bekamen, sie kann mit ihrer Situation also nicht
ganz unglücklich gewesen sein."
„Bei allem Respekt, Lord Nicholas", sagte Callie, „fünfzig
Kinder auf die Welt zu bringen und großzuziehen kann man
wohl kaum als glückliche Umstände bezeichnen. Ich kann mir
nicht vorstellen, dass sie so ausgeruht wirken würde, wenn die
Statue ihr Mutterglück darstellte."
St. John lachte auf. „Sehr gut formuliert, Lady Calpurnia.
Wenn man nach dieser Unterhaltung geht, dürfte Julianas De-
büt eine überaus amüsante Angelegenheit werden ... zumindest
für mich."
„Und natürlich hat es für uns alle oberste Priorität, dass du
dich gut unterhältst, Nicholas."
Callie versteifte sich, als die ärgerlichen Worte Unheil ver-
kündend in den Salon drangen, und dann begann ihr Herz wie
wild zu schlagen. Sie versuchte, nach außen hin ruhig zu blei-
ben, wusste aber schon, bevor sie sich umdrehte, dass Ralston
zu ihnen gestoßen war.
St. John schien ihre Nervosität zu spüren und zwinkerte ihr
zu, ehe er sich mit einem breiten Lächeln zum Marquess um-
drehte und meinte: „Das hat es, Bruderherz."
Raistons Miene wurde noch finsterer. Er wandte sich zu Callie
und durchbohrte sie mit einem durchdringenden Blick. Callie
lief rot an und wandte den Blick ab, sah überallhin, nur nicht zu
ihm. Nicholas bemerkte ihr Unbehagen und kam ihr zu Hilfe.
„Es gibt keinen Grund, so unhöflich zu sein, Gabriel. Ich habe
Lady Calpurnia nur Gesellschaft geleistet, während sie auf Ju-
liana wartete. Wo steckt das
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