Sarah Maclean
Mädchen denn?"
„Ich habe Jenkins angewiesen, sie vorerst nicht zu holen. Erst
möchte ich noch mit Lady Calpurnia reden, ehe die beiden zu-
sammentreffen." Er machte eine kleine Pause. „Allein, wenn
ich bitten darf, Nick."
Callies Herz begann wie wild zu hämmern. Was konnte er ihr
wohl zu sagen haben, was sein Bruder nicht hören durfte?
Nick beugte sich tief über ihre Hand und sagte: „Ich freue
mich schon auf nächstes Mal, Lady Calpurnia." Er richtete sich
auf, lächelte Callie freundlich an und zwinkerte ihr noch ein-
mal beruhigend zu.
Sie konnte gar nicht anders, als das Lächeln zu erwidern.
„Ich mich auch, Lord Nicholas."
Ralston wartete, bis sich die Tür hinter seinem Bruder ge-
schlossen hatte, ehe er Callie bedeutete, in einem Sessel Platz
zu nehmen, und sich ihr dann gegenübersetzte. Callie versuchte
zu ignorieren, wie winzig die Möbel, ja der ganze Raum im Ver-
gleich zu ihm wirkten, als wäre Ralston House für einen kleine-
ren Mann gebaut worden. Sie neigte den Kopf und betrachtete
angelegentlich die Polsterung des Sessels, auf dem sie saß - sie
wollte den Eindruck erwecken, Ralston gar nicht zu bemerken.
Natürlich war dies vergebliche Liebesmühe. Einen Mann wie
Ralston übersah man nicht.
„Ich möchte über Juliana sprechen, bevor Sie sie kennenler-
nen."
Callie unterdrückte eine Spur Enttäuschung. Musste er so un-
verbindlich tun? Sie sah nicht auf, richtete die Aufmerksamkeit
stattdessen auf ihre Hände, die sie im Schoß verkrampft hatte,
und versuchte nicht daran zu denken, wie diese Hände Ralston
vor wenigen Stunden so vertraut berührt hatten. Aber wie soll-
te sie das vergessen? Sein warme Haut, sein weiches Haar, seine
starken, muskulösen Arme - all das hatte sie berührt. Und er
wirkte vollkommen unbewegt.
Sie räusperte sich leise und sagte: „Gewiss, Mylord."
„Ich halte es für das Beste, dass Sie nach Ralston House kom-
men, um Juliana dort einzuweisen. Sie braucht dringend An-
leitung, und ich möchte nicht, dass sie sich vor der Countess of
Allendale einen Schnitzer erlaubt."
Ihre Augen weiteten sich, als sie den Kopf hob und ihn ansah.
„Meine Mutter würde nie weitersagen, dass Ihre Schwester bei
mir Unterricht nimmt."
„Trotzdem, die Wände haben Ohren."
„Die Wände von Allendale House nicht."
Er beugte sich vor, kam ihr nah genug, um sie zu berühren,
seine Muskeln ballten sich zu kaum kontrollierbarer Kraft.
„Lassen Sie mich ganz deutlich werden. In diesem Punkt werde
ich nicht nachgeben. Juliana möchte nicht in die Gesellschaft
eingeführt werden, sondern würde viel lieber nach Italien zu-
rückkehren. Vermutlich wird sie einige Szenen machen, ehe sie
akzeptiert, dass ihr Heim nun hier ist. Ihre Mutter und deren
Freundinnen sind Stützen der vornehmen Gesellschaft - Frau-
en, denen Herkunft und Ruf alles bedeuten. Julianas Stamm-
baum mag nicht bis zu William dem Eroberer zurückzuführen
sein, vermutlich wird sich der schlechte Ruf unserer Mutter
nachteilig auf sie auswirken, doch sie wird sich in der Londoner
Aristokratie bewegen. Und sie wird eine gute Partie machen.
Das werde ich nicht gefährden."
Er sprach absolut sicher, als sei sein Weg der einzige, der Ju-
liana Erfolg verhieß. Und doch war die Dringlichkeit nicht zu
überhören, die in seiner Stimme lag. Er hatte recht - Juliana
Fiori würde weitaus mehr als Callies Unterstützung brauchen,
wenn sie in der Gesellschaft reüssieren wollte. Sie war die
Tochter einer gefallenen Marchioness und eines italienischen
Kaufmanns, nicht von Adel, in den Augen des ton kaum legitim.
Doch Gabriel St. John, der Marquess of Ralston, würde nicht
zulassen, dass die dunkle Familiengeschichte die Zukunft sei-
ner Schwester zerstörte. Der Umstand, dass die Brüder St. John
sich vorgenommen hatten, Juliana in die Gesellschaft einzu-
führen, zeigte ihren Mut, und als stolze, liebevolle Schwester
respektierte Callie diese Entscheidung. Diese Männer waren es
nicht gewohnt zu scheitern.
„Ich freue mich darauf, Ihre Schwester kennenzulernen, My-
lord." Ein recht einfacher Satz, aber einer, in dem eine unter-
schwellige Bedeutung mitschwang: Ich bin auf Ihrer Seite.
Er hielt inne, warf ihr einen durchdringenden Blick zu, und
zum ersten Mal seit zehn Jahren wich sie diesem Blick nicht
aus. Als er weitersprach, war sein Ton weicher. „Ich hätte nicht
gedacht, dass Sie heute kommen würden."
Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln.
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