Sarah Maclean
um einen unschuldigen Blick.
Nicks Mundwinkel hob sich zu einem schiefen Grinsen.
„Nein, ist es nicht. Ihre Bemühungen hätten mich allerdings
überzeugt, wenn ich nicht sein Zwillingsbruder wäre. Wann ha-
ben Sie ihn spielen hören?"
Callie öffnete den Mund, schloss ihn wieder.
„Sollte ich vielleicht lieber fragen, wo Sie ihn haben spielen
hören?"
Nahm er sie auf den Arm? Sie war ertappt worden, doch wür-
de sie nicht kampflos untergehen. Sie sah Nick in die Augen und
versetzte: „Nirgends,"
Er beugte sich vor und flüsterte: „Lügnerin."
„Sir!", protestierte sie, „ich versichere Ihnen, dass Lord Rals-
ton nicht..."
„Machen Sie sich nicht die Mühe, ihn zu verteidigen", sagte
Nick lässig. „Sie vergessen, dass ich meinen Bruder sehr gut
kenne."
„Aber wir haben doch gar nicht ..." Callie unterbrach sich
und spürte, wie ihr eine verräterische Röte in die Wangen stieg.
Nick hob eine Augenbraue. „Ach ja?"
Angelegentlich betrachtete Callie Nicks Krawattenknoten.
Er ließ ein paar Augenblicke verstreichen und brach dann in
Gelächter aus. „Keine Angst, Lady Calpurnia, Ihr Geheimnis ist
bei mir bestens aufgehoben. Allerdings muss ich zugeben, ein
wenig eifersüchtig zu sein. Schließlich weiß jeder, dass ich der
hübschere St. John bin."
Da konnte auch sie sich ein Lachen nicht verkneifen, und
dann schwenkte er sie so schnell herum, dass sie beinahe den
Boden unter den Füßen verlor, um der Situation die Ernsthaf-
tigkeit zu nehmen. Sie hob den Kopf und entdeckte, dass Nicks
Augen vor jungenhaftem Vergnügen f u n k e l t e n . Ihr Blick blieb an Nicks Narbe hängen, ehe sie sich besann und rasch wegsah.
„Das Ding sieht ziemlich übel aus, was?"
Callie sah ihn wieder an und musterte freimütig seine Wan-
ge. „Keineswegs. Eigentlich überraschend, aber ich habe viele
Frauen sagen hören, dass sie Sie damit noch attraktiver fin-
den."
Er zog eine Grimasse. „Die Damen sehen das zu romantisch.
Ich bin kein Pirat, den es zu bessern gilt."
„Nein? Wie schade. Ich habe gehört, dass Sie ein halbes Jahr-
zehnt im Mittelmeer gesegelt sind, Schiffe geplündert und Un-
schuldige entführt haben."
„Die Wahrheit ist weit weniger aufregend."
In gespieltem Entsetzen sah sie ihn an. „Sagen Sie bloß, Sie
ziehen meine Version vor!"
Darüber lachten sie gemeinsam, und Callie fragte sich, wie es
möglich war, dass sie sich in Nicholas St. Johns Gesellschaft so
ungezwungen fühlte, während sein Zwilling solche Macht über
ihre Gefühle hatte.
Es lag nun eine gute Woche zurück, seit sie Ralston zum letzen
Mal gesehen hatte - seit er sie aus dem Fechtclub heraus und
in seine Kutsche hinein geschmuggelt hatte, um sie nach Al-
lendale House zurückzubringen. In den dazwischen liegenden
acht Tagen war sie mehrmals in Ralston House gewesen - um
Julianas Unterricht zu beaufsichtigen oder um mit der jungen
Frau und Mariana Tee zu trinken. Jedes Mal hatte sie gehofft,
Ralston zu begegnen, hatte gehofft, dass er sich zu ihr gesellen
würde. Bei einem Haus voller Dienstboten und einer so mitteil-
samen Schwester hatte er sicher gewusst, wann Callie im Haus
war.
Zweimal hatte sie in Erwägung gezogen, sich zu entschuldi-
gen und ihn selbst aufzusuchen, hatte sich Dutzende von Me-
thoden ausgedacht, wie sie eine Begegnung zwischen ihnen
herbeiführen könnte, vom zufälligen Betreten seines Arbeits-
zimmers bis zu irgendwelchen erfundenen Gründen, warum
sie mit ihm über seine Schwester reden musste. Bedauerlicher-
weise hatte es den Anschein, als gestaltete sich Julianas Debüt
recht mühelos - in einer Woche würde sie auf ihren ersten Ball
gehen -, und Callie hatte bisher nicht die Nerven gefunden, ein-
fach Raistons Arbeitszimmer zu betreten.
Was für eine Ironie, wenn man überlegte, dass sie bei ihrem
allerersten Besuch die Unverfrorenheit besessen hatte, Rais-
tons Schlafzimmer aufzusuchen. Aber damals war die Situati-
on eine andere gewesen. Es war um ihre Liste gegangen. Jetzt
lagen die Dinge anders.
Sie hatte in Betracht gezogen, sich mit Hilfe der Liste Zutritt
zu Ralston zu verschaffen - schließlich hatte sie versprochen,
ohne seine Begleitung keinen weiteren Punkt auf der Liste in
Angriff zu nehmen, und sie war schon ziemlich versessen da-
rauf, etwas Neues auszuprobieren. Aber die Vorstellung, dies
auszunutzen, um ihn zu sehen, kam ihr ziemlich erbärmlich vor.
Sie fühlte sich dann beinah wie ein Schoßhündchen, das
Weitere Kostenlose Bücher