Sarg niemals nie
verkündete John. »Hier ist eine junge Dame, die zusammen mit uns die Leiche betrachtet.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen.«
»Falls es Ihnen nichts ausmacht«, sagte die junge Frau, »dürfte ich dann vielleicht an mich nehmen, was Sie nicht haben wollen? Ich arbeite da an einer Sache.«
Ich runzelte die Stirn und nahm die Leiche wieder in Augenschein.
»Meinen Sie den Schmuck?«
»Kaum«, erwiderte sie geringschätzig. »Viel zu aufdringlich. Ich brauche nur den Körper.«
»Frederick«, sagte John, »glaubst du, sie ist diejenige, für die ich sie halte?«
»Ich stehe unmittelbar neben Ihnen«, warf sie ein. »Wie unhöflich, in der dritten Person über mich zu sprechen!«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie den Körper holen wollen?«
»Sie sind offenbar ein ganz Heller.«
»Er heißt Frederick.« John versuchte, sich seitlich vor ihr zu verneigen, obwohl er schon halb über das Grab gebeugt war. »Ich bin John. Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Ganz meinerseits.« Sie knickste. »Ich bin Mary. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich heute Nacht einige weitere Gräber ausrauben, und es ist schon spät.« Sie nahm eine große Säge, die sie sich unter den Arm geklemmt hatte. Auf den scharfen Metallzähnen klebte getrocknetes Blut.
Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, und stellte fest, dass keine Worte verfügbar waren, die ihn zu füllen vermochten, also schloss ich ihn wieder.
»Sind Sie der Ghul von Bath?«, fragte John. Er wandte sich an mich, in seinen Augen glitzerte reines Entzücken. »Ist es nicht wundervoll finster hier?«
»Als Ghul lasse ich mich nicht gern bezeichnen, aber es stimmt schon, ich bin es.«
»Sie sind also die Person, die alle diese Leichen stiehlt?«, fragte ich, als ich mich wieder gefasst hatte.
»Die bin ich«, gab sie zu, »aber wenn Sie mir richtige Fragen stellen, statt alles zu wiederholen, was ich von mir gebe, können wir das Gespräch erheblich rascher abwickeln.«
»Das ist mir bei ihm auch aufgefallen, als wir uns das erste Mal begegnet sind«, sagte John mit strahlenden Augen. »Wer hätte gedacht, dass der Ghul von Bath ein so reizendes Wesen ist?«
»Bitte.« Mary schob John zur Seite. »Ich muss jetzt wirklich vorankommen.« Sie setzte sich auf die Kante des Grabs und machte Anstalten hinabzuklettern. »Sie da«, sagte sie und nickte in meine Richtung. »Da Sie sowieso nur untätig herumstehen, könnten Sie vielleicht den Kopf ruhig halten?«
»Den Kopf ruhig halten?«
»Müssen Sie immer alles wiederholen?«, fragte sie. »Oder wollen lieber Sie mir helfen, Eros?«
»Mit einem schöneren Namen hat mich noch nie jemand gerufen«, gluckste John. »Und gewiss keine so hübsche Grabräuberin.«
»Sie sind beide zu nichts zu gebrauchen.« Mary schüttelte enttäuscht den Kopf. »Ich muss Sie töten, wenn ich hier fertig bin.«
»Uns töten?«
»Das war ein Scherz«, sagte sie, ohne zu lächeln. »Entschuldigung, mein Humor ist eher schwarz.«
»Der Ghul von Bath«, wiederholte John und breitete die Arme aus. »Es ist so aufregend. Sie sind so … so viel … ich weiß nicht, viel zugänglicher, als ich mir einen Ghul vorgestellt hätte. Darf ich fragen, wo Sie die gestohlenen Toten essen?«
»Ich esse sie nicht«, erklärte sie. »Ich forsche.«
Mit aufgerissenem Mund wich John einen Schritt zurück.
»Eine Medizinstudentin! Darauf hätte ich gleich kommen können. Abgesehen von dem dunklen, bösen Antriebin Ihnen verbindet uns eine akademische Neugier. Besser könnte es sich nicht fügen.«
»Ich bin keine Medizinstudentin.« Sie schlug die Augen nieder, als wäre sie tatsächlich verlegen. »Ich … ich schreibe einen Roman.«
Der bereits verzückte John war völlig hingerissen.
»Eine Studentin der Literatur! Das hätte ich vorhersehen müssen. Ich, meine Lady, bin selbst ein Dichter, auch wenn ich noch nichts veröffentlicht habe. John Keats, stets zu Diensten.«
»Welche Romansparte führt eine Schriftstellerin mitten in der Nacht auf einen Friedhof, wo sie den Leichen die Köpfe absägt?«, fragte ich misstrauisch.
»Eine Geschichte über Wahnsinn und Verzweiflung«, antwortete sie schwer atmend. »Der Niedergang eines Mannes, der versucht, ein Gott zu werden, und dabei einen Teufel erschafft.«
Der bislang schon hingerissene John war ihr nun endgültig verfallen.
»Er sammelt Gliedmaßen und Organe auf Friedhöfen und in Beinhäusern«, fuhr sie mit großen Augen fort, »und erschafft aus den
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