Sarg niemals nie
Toten einen Menschen. Er schenkt ihm dank einer teuflischen Maschine, die er selbst entworfen hat, ein neues Leben.«
»Das ist wahrscheinlich der grässlichste Einfall, von dem ich je gehört habe«, murmelte ich.
»Er ist brillant!«, rief John und hüpfte begeistert auf und ab. »Die düsteren Friedhöfe, dazu die Bürde, ein Ungeheuer auf die Welt losgelassen zu haben, und Wissenschaft verkauft sich heutzutage sowieso wie geschnitten Brot.« Er näherte sich der jungen Frau, nahm ihre Hand und kniete auf dem kalten Friedhofnieder. »In Ihnen habe ich eine verwandte Seele gefunden.«
»Danke.« Mary entzog ihm höflich die Hand. »Ich bin aber schon verheiratet, und übrigens sogar mit einem Dichter.«
»Was? Mit wem? Mit Lord Byron etwa? Die Belagerung von Korinth war nicht ganz so gut, wie alle behauptet haben, lassen Sie sich da nichts vormachen.«
»Er heißt Percy Shelley«, erklärte Mary, »aber Byron sehen wir tatsächlich oft. Vor zwei Wochen habe ich Claire geholfen, sein Kind zur Welt zu bringen. Wir glauben jedenfalls, dass es von ihm ist.«
»Percy Shelley!«, rief John voller Qual. »Sie sterben – und die Toten kehren nimmer! Der Schmerz, sie zählend, sitzt an offner Gruft.«
»Ja«, sagte Mary, »das ist eins meiner Lieblingsgedichte.«
»Sprechen Sie doch leise!«, drängte ich sie.
»Shelley!«, rief John unbeeindruckt. »Ein dunkler Dichter für das Ohr, das Schrecken liebt. Ich würde mich nicht wundern, wenn auch er ein Vampir wäre.«
»Ein Vampir?«
»Fragen Sie nicht!«, warf ich ein.
»Shelley, Shelley, Shelley!«, stöhnte John. »Ich hätte wissen müssen, dass er Sie zuerst trifft und dass Sie ihm verfallen. Dies trauervolle Bild der Pein, die Gräber, bleiben dir allein. Diese Ängste! Wäre ich eine Frau, ich wäre ihm selbst verfallen.«
»Wir laden Sie mal zum Essen ein«, versprach Mary.
»Anscheinend bleibt mir nichts mehr, als zwischen den verwesenden Körpern der Welt zu sitzen und zu weinen«, jammerte John hoffnungslos.
Mary beugte sich zu mir herüber. »Geht es ihm nicht gut?«, flüsterte sie.
»Es ging ihm nie besser«, erklärte ich. »In den letzten drei Minuten hat er das Mädchen seiner Träume kennengelernt und gleich wieder verloren. Sie haben ihn in einer Nacht zweimal zum glücklichsten Menschen auf Erden gemacht.«
»Freut mich, dass ich helfen konnte.«
»Wir brauchen noch etwas«, sagte ich. »Eine Leiche.«
Misstrauisch kniff Mary die Augen zusammen.
»Wie kommen Sie auf den Gedanken, ich hätte eine Leiche?«
»Sie stehlen seit mehr als einer Woche jede Nacht Körperteile von Toten.«
»Das heißt noch lange nicht, dass ich sie zu einer kompletten Leiche zusammensetze«, wandte sie ein.
»Sie …« Ich hielt inne, denn mir war ihre schuldbewusste Miene nicht entgangen. »O doch, Sie tun es! Das ist ja das Schlimmste überhaupt! Besitzen Sie überhaupt irgendeine Eigenschaft, die nicht abgrundtief böse und gewalttätig ist?«
»Für gewalttätig halte ich mich nun wirklich nicht.«
»Sie sind gerade dabei, einer Frau den Kopf abzusägen.«
»Sie ist tot, das zählt nicht.«
»Hören Sie, Mary, ich brauche Ihren Körper.«
»Aber ich habe nur einen … nun ja, zwei, wenn ich meinen eigenen mitzähle, aber den gebe ich nicht her.«
»Letzte Nacht haben Sie hier eine Leiche gestohlen. Einen Mister Harry Beard.«
»Trug er ein Taschentuch mit Monogramm bei sich?«
»Das weiß ich doch nicht. Warum?«
»Woher soll ich dann seinen Namen kennen? Wenn ich diesen Leuten begegne, sind sie ziemlich sprachlos und stellen sich nicht vor.«
»Wenn Sie sich doch nur erinnern könnten, was Sie letzte Nacht … wie viele Leichen stehlen Sie eigentlich pro Nacht?«
»Ich sagte doch schon, ich stehle keine Leichen, sondern nur Körperteile. Wie könnte ich auch ganze Körper mit mir herumschleppen?«
»Er war ein alter Mann, leicht gebeugt, runzlig und schwach …«
»Sie sagen also, dieser alte Mann sei dem Äußeren nach einem alten Mann sehr ähnlich gewesen?«
»Ja.«
»Ein Glück«, meinte sie verächtlich. »Das engt den Personenkreis erheblich ein.«
»Vielleicht könnten wir mal vorbeikommen und Ihre … Ihre Sammlung besichtigen. Möglicherweise erkennen wir ja ein paar Teile wieder.«
»Letzte Nacht?« Sie überlegte. »Letzte Nacht war ich gar nicht hier. Ich war in der Leichenhalle von Eastchester. Da ist eine ganze Familie an Rauchvergiftung gestorben. Die Leichen befanden sich in ausgezeichnetem Zustand. Ich fand die besten
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