Sarg niemals nie
etwas bin ich nicht gewohnt. Die Leute, die ich in Särge stecke, wollen zumeist nicht wieder heraus.«
»Das ist wohl auch besser so.«
Gustav grunzte leise, und ich drückte weiter von innen, bis die Nägel endlich kreischend nachgaben und der Deckel aufging wie ein Maul voller spitzer, dünner Zähne. Das Mondlicht schien zwischen Wolken und toten Bäumen auf mich herab, aber mir kam es so schön vor wie ein Sonnenaufgang. Ich schnitt eine Grimasse und blinzelte ins Licht, doch Gustav keuchte vor Furcht und drückte den Deckel wieder zu.
»Gustav?«, flüsterte ich, weil ich fürchtete, jemand sei gekommen. Ich wollte mich schließlich nicht verraten. »Gustav, was gibt’s?«
Die einzige Antwort waren gemurmelte Gebete und ein Schauer loser Kieselsteine.
»Gustav, wo wollen Sie hin? Was ist los?« Da ich keine Antwort bekam, drückte ich den Sargdeckel zum zweiten Mal hoch und schob weiter, bis ich Gustav über mir erkennen konnte. Sein Gesicht wurde vom mitternächtlichen Schein beleuchtet, und er starrte etwas an. Die Arme hingen schlaff herab, doch die Beine waren angespannt, als wäre er bereit, auf und davon zu laufen. Ich bewegte die steifen Glieder, umendlich aus dem Sarg zu steigen, und stand schließlich aufrecht.
»Die Heiligen mögen uns behüten«, flüsterte Gustav und zitterte am ganzen Körper. Er wich einen Schritt zurück, als wollte er vor eingebildeten Dämonen fliehen, und trat mir auf die Hand, als ich nach oben griff, um aus dem Grab hinauszuklettern.
Mit einem Schrei fiel ich wieder hinunter, doch es war nur ein dumpfer Schrei, weil der Schmerz rasch wieder abklang. Viel lauter war Gustavs Kreischen, das nackte Angst ausdrückte. Er schrie mit einer Leidenschaft, mit der ich mich keinesfalls messen konnte, schwang sich voller Gefühl ganz hoch hinauf und stürzte zu so tiefen Bassregistern hinab, dass jeder Opersänger ihn um sein Stimmvolumen beneidet hätte. Mit dem Kreischen gingen wilde Beinbewegungen einher, als er Hals über Kopf fliehen wollte. Ich rief ihm hinterher, er solle warten, und wollte mit der pochenden Hand nach einem seiner Beine greifen, doch er schoss blitzschnell davon, und ich war allein.
»Keine Sorge, Bruder«, sagte eine tiefe, heisere Stimme. »So ergeht es uns allen.«
Ich fuhr herum und sah mich jener Erscheinung gegenüber, vor der Gustav entsetzt davongerannt war. Fünf große Gestalten standen vor mir. Sie trugen lange dunkle Mäntel, und die finsteren Gesichter waren von zerzaustem schwarzem Haar umrahmt.
»Es ist ihre Schwäche, die sie in die Flucht schlägt, nicht die deine«, sprach eine der Erscheinungen.
»Was?«, fragte ich.
»Unsere Schwäche besteht darin, dass wir sie nicht aufzuhalten vermögen«, ergänzte der Zweite.
»Schweig!«, rief der Erste, ballte die Knochenfinger zur Faust und starrte den Zweiten an. »Wir haben uns entschieden, sie nicht zu verfolgen. Die einzige Schwäche ist die ihre, denn sie können uns nicht hetzen.«
»Vielleicht haben sie die gleiche Entscheidung getroffen wie wir.«
»Das würden sie nicht wagen – dank einer unserer vielen anderen Stärken versetzen wir sie in große Angst. In jene Angst, die den Totengräber veranlasste, vor unserem Bruder wegzulaufen.«
»Aber genau das meine ich doch«, widersprach der Zweite und lenkte abermals die Aufmerksamkeit des Ersten auf sich. »Da sie niemals ernsthaft versuchen, uns zu finden, wurden ihre entsprechenden Fähigkeiten auch niemals auf die Probe gestellt.«
Die erste Gestalt seufzte müde. »Das haben wir doch alles schon mehrfach erörtert. Wir sind stark, sie sind schwach. Wir sind überlegen, sie sind unterlegen.« Mit einer langen, spitzen Klaue wies er auf seinen Gefährten und schwenkte sie missbilligend hin und her. »Man muss immer positiv denken.«
»Vielleicht könnten wir sagen, dass unsere Stärke unsere Schwäche ist«, erwiderte der Zweite. »Wir bleiben Angriffen gegenüber unempfindlich, solange niemand das dringende Bedürfnis verspürt, auf uns loszugehen.«
»Was bedeutet, dass wir sie in falscher Sicherheit gewiegt haben«, griff der Erste den Gedanken des Zweiten auf. »Unsere Stärke besteht darin, dass wir schwach erscheinen, was wir natürlich nicht sind, und ihre Schwäche besteht darin, dass sie sich für stark halten.« Dann deutete er mit einem zugespitzten langen Fingernagel, der schwach im Mondlicht schimmerte, auf mich. »Undnun wollen wir unserem Bruder helfen.« Er kniete neben dem Grab nieder und reichte mir die
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