Sarum
fragte Akun: »Warum bleiben wir nicht hier?«
Am nächsten Tag erinnerte Hwll Tep an sein Versprechen, ihm das Hochland zu zeigen, aber wieder wollte der schlaue kleine Mann sich nicht festlegen.
»Laß uns zuerst miteinander jagen«, beharrte er. »Wenn wir etwas erlegt haben, führe ich dich auf die Höhen. Wir jagen bei Vollmond.« Es gab noch einen Grund, warum Hwll sich mit dem Aufschub einverstanden erklärte: So geschickt er auch in der Tundra gewesen war, in den südlichen Wäldern war Tep der bessere Jäger. In der offenen Tundra jagten die Männer das wenige Wild in Gruppen, verfolgten ein Beutetier tagelang und ermüdeten es, bevor sie es erlegten. Tep dagegen jagte allein in den Wäldern, wo es viele verschiedene Arten gab: Ricken, schnelle Wildpferde, Hasen, graue Rebhühner, Schwäne und Gänse waren leichte Beute. Gefährlicher waren Wildschwein und Braunbär; Iltis, Fuchs, Wolf, Dachs und Wiesel machten dem Menschen die Beute streitig. Am Rand der Lichtungen wuchsen Brombeeren und Wacholder. Es gab eßbare Pilze und Gräser. Der Mann mit dem verkniffenen Gesicht und dem krummen Rücken kannte alles, was eßbar war, und wußte, wo man es finden konnte.
Auch seine Waffen waren vielfältiger. Hwll hatte in der Tundra nur einen einzigen Speer, Pfeil und Bogen mitgeführt. Teps Waffen jedoch hatten verschiedene Köpfe, jeden für ein bestimmtes Tier. Sie waren weicher, normalerweise eher flach als zugespitzt. Seine Pfeilköpfe stimmten genau mit der Kerbe im Schaft überein, und manche Speerspitzen hatten einen Ansatz, der in den Schaft eingepaßt war. Und das waren nicht die einzigen Unterschiede. Auch Teps Kleidung war anders: eng anliegend und mit einem Zwirn aus Tierdärmen zugenäht. Im Sommer trug er nur ein Wams und einen Lendenschurz, und im Winter zog er lange Gamaschen dazu an.
Ulla fertigte Körbe aus Weiden und schön geschnitzte Holzschalen, viel schöner als alles, was Akun bisher gemacht hatte. Hwll wußte es nicht, aber er war einer der letzten seiner Art. Auf der gesamten nördlichen Hemisphäre wurden die paläolithischen Jäger, die Wanderer der Tundra, von erfahreneren mesolithischen Waldjägern wie Tep abgelöst, die das Land in Besitz nahmen, als die warmen Wälder sich nach Norden ausbreiteten.
Sie mußten noch einige Tage auf den Vollmond warten und nutzten die Zeit gut. Hwll lernte von Tep, bessere Waffen zu machen und wirksame Fallen im Wald aufzustellen, und Ulla zeigte Akun, wie man Körbe flocht. Es entwickelte sich eine Art von Freundschaft zwischen den beiden Familien, und Hwll sah, daß diese Begegnung ihm bisher nützlich gewesen war.
Jede Nacht standen die beiden Männer nun am Fluß oder unten am See und beobachteten, wie der Mond, die Göttin aller Jäger, immer runder und leuchtender am Himmel stand. Die Nächte verstrichen, und endlich war der Mond voll: Sie wußten, daß der Abend der Jagd gekommen war. Es war an der Zeit, die Rituale zu Ehren der Göttin zu vollziehen.
Am Ufer des geschützten Sees machten sie ein Feuer. Als der Mond hoch über dem See in den Nachthimmel stieg, leuchtete der Widerschein ihnen aus dem Wasser entgegen.
»Jetzt kommt sie und trinkt«, sagte Tep, und als sie die silberne Scheibe auf dem See schimmern sahen, war es wirklich so, als wäre die Göttin ins Wasser getaucht, um zu trinken.
Während die Kinder mit dem Feuer beschäftigt waren, vollzogen die beiden Männer ein seltsames, doch höchst wichtiges Ritual. Tep hielt das Geweih eines Hirsches, den er im Jahr zuvor erlegt hatte, auf dem Kopf und tanzte ganz langsam ums Feuer, ahmte dabei genau die grazilen Schritte des Wildes, sein Verhalten, die rasche, nervöse Drehung des Kopfes beim Wittern einer möglichen Gefahr nach. Und während Tep die Rolle des Wildes so wahrheitsgetreu spielte, daß die Kinder ihm voller Bewunderung zusahen, pirschte Hwll sich um das Feuer mit größter Vorsicht an, genau wie bei einer echten Jagd. Mit unglaublicher Genauigkeit spielten die Männer die Jagd in allen Einzelheiten durch. Wenn sie am nächsten Tag ihre Beute machten, das wußten sie, war der Geist des ausgewählten Tieres bereits der Mondgöttin geweiht und von ihr angenommen worden, und der Körper würde ihnen gehören. Nichts blieb dem Zufall überlassen. Nach der Zeremonie war die kleine Schar sehr still – sie wußte, daß ein bedeutender alter Zauber sich vollzogen hatte.
Am folgenden Morgen stellten und erlegten Hwll und Tep, begleitet von Teps älterem Sohn, einem zähen
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