Sarum
die Hauptstraße von Wilton entlang.
Die stabilen Holzbarrikaden an der Westseite der Stadt waren erst zur Hälfte fertiggestellt, und die Palisaden und Wälle, die den Kreis schlössen, blieben den Winter über in unvollendetem Zustand. Die beiden auffälligsten Dinge des Ortes waren der kleine, von bescheidenen Holzbauten umgebene Marktplatz und, östlich davon, ein großes Steingebäude, die Kingsbury, der Königspalast.
Heute lag der Palast verlassen da, der König war auf der Jagd, doch die Besucher hatten ein anderes Ziel unmittelbar daneben: einen kleinen Gebäudekomplex in einer Einfriedung, durch deren Tor sie nun schritten. Es war das Kloster. Hier lebte, in einer vornehmen Gesellschaft von zwölf Nonnen, Ports Schwester. Es gab mehrere Gebäude – das Nonnenkloster, eine hölzerne Kirche, ein Refektorium. Die Besucher wurden von einer Nonne zu einer Steinkapelle mit zwei Seitenschiffen und einem steilen Holzdach geführt. Der größte Stolz der Nonnen waren die kunstvoll gearbeiteten, mit schöner Flechtbandornamentik überzogenen Pfeiler zu beiden Seiten der Westtüre; auch die viereckigen Kapitelle zeigten ein ähnlich kompliziertes Muster von ineinander verschlungenen Drachen – beste sächsische Handwerksarbeit.
Ein leichter Duft von Weihrauch hing in der Kirche. Überall gab es Zeichen großmütiger Schenkungen: Gold- und Silbergeräte, herrliche Wandbehänge und ein schön gewobenes Altartuch. Aelfwald, der Than, besuchte das Kloster häufig. Er erwies der Äbtissin, einer entfernten Verwandten des Königs, seine Reverenz. Und Port besuchte seine Schwester. Die Äbtissin kam in Ediths Begleitung herein. Die beiden Nonnen und die Gäste tauschten höfliche Begrüßungen aus, dann traten Port und Edith beiseite.
Sie war keine hübsche Frau, ebenso dürr wie ihr Bruder, wenn auch zehn Jahre jünger. Ihre Gesichtshaut spannte sich straff über den Knochen – totenkopfähnlich. Dieser Eindruck wurde verstärkt durch gelbliche Augen und blasse Lippen, die im Winter häufig blau anliefen. Edith hatte Glück gehabt, daß sie überhaupt im Kloster aufgenommen worden war, denn fast alle Nonnen waren von hohem Geblüt, und ihre Familien hatten Stiftungen in einer Höhe gemacht, die die Mittel der Ports weit überstieg.
Edith hatte nur ein Ziel, und da sie Zeit zum Nachdenken hatte, war es ihr stets gegenwärtig. Sie hatte als einzige dem Kloster noch keine Schenkung gemacht, und wenn man ihr das auch nie vorhielt, so empfand sie es doch als Schande. Deshalb hatte sie drei Jahre zuvor ihr kleines Erbe ihrem Bruder zur Aufbewahrung gegeben und ihm in einem schwachen Augenblick das Versprechen abgenommen, daß er so bald wie möglich etwas dazulegen würde, damit die Familie ein schönes goldenes Kreuz für das Kloster kaufen konnte. Tag und Nacht träumte sie davon. Schlicht, aber würdig sollte es auf dem Altar der Klosterkirche stehen, und die Nonnen würden wissen, daß es von Ediths Familie kam. Da erhielt sie die Nachricht von Ports Unfall und von der folgenden Gerichtsverhandlung. Sie hatte zu niemandem davon gesprochen, doch, allein in ihrer Zelle, hatte sie mit wachsender Erregung die Summe errechnet, die er, das wußte sie, als Wergeld erhalten würde. Zusammen mit ihren Ersparnissen würde es ausreichen. Das war Ports Problem.
Es war eine feststehende Klausel in dem angelsächsischen System, daß ein freier Bauer, der fünf Hides Land besaß – ein Hide entsprach etwa vierzig Hektar –, zwangsläufig das Recht auf den Status eines Thans hatte. Ein Mann wie Aelfwald hatte eine große Anzahl von Hides. Port hatte bisher vier. Das Wergeld, sein Erspartes und dazu etwas von Ediths Geld würden für den letzten Hide ausreichen. Seit zwei Wochen stellte auch er insgeheim Berechnungen an. Er wünschte sich nichts sehnlicher als diesen höchst wichtigen Status für sich und seine Familie.
Edith nahm nun seinen verbundenen Arm in ihre dünnen Hände und sah ihn zärtlich an. »Es tut mir leid, daß du verletzt bist«, sagte sie leise. »Es war nicht so schlimm.«
Nach kurzem Schweigen kam die unvermeidliche Frage: »Hast du deinen Fall gewonnen?« Er nickte gequält.
»Hat Sigewulf das Wergeld bezahlt?« Er nickte wieder.
Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Haben wir nun genug?« fragte sie eifrig.
Er wollte es einfach nicht zugeben. »Vielleicht. Ich weiß es nicht«, log er.
Sie machte ein enttäuschtes Gesicht. Sie wußte, daß sie ihren Bruder nicht ausfragen durfte. »Ich hatte
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