Sarum
ungenutzt. Herlevas Gewicht hatte triumphiert. Sie drehte die junge Frau um und riß ihr das Kleid vom Leib. Als ihr Opfer schrie, hielt Herleva, der eigenen Wunden nicht achtend und blind vor Haß, Ausschau nach einem Gegenstand, um ihr Opfer damit zu bearbeiten. Doch da teilte sich der Kreis der Zuschauer plötzlich. Es wurde still, als Richard de Godefroi auf die beiden Frauen zuging. Er wurde gefolgt von den erschrocken dreinblickenden Ehemännern, die man eilends aus dem Kastell herbeigeholt hatte.
Beim Anblick des normannischen Ritters vergaß selbst Herleva ihren Zorn und rappelte sich auf. Shockleys Frau hielt das zerrissene Kleid über der Brust zusammen. In der Stille klang Godefrois Stimme schneidend: »Ihr brecht den Frieden! Was ist euch lieber: der Tauchstuhl oder der Fußblock? Nehmt eure Frauen mit«, befahl der Ritter den Männern. »Wenn sie den Frieden wieder brechen, lasse ich sie vor Gericht stellen.« Er winkte der Menge gebieterisch zu: »Fort mit euch!« rief er, machte kehrt und ging davon. John von Shockley führte seine Frau rasch weg, doch William stand da und starrte Herleva an. Seine schwarzen Brauen zogen sich zornig zusammen. Er hatte lange Finger und Zehen wie seine Vorfahren, und sein schmales Gesicht mit den eng beieinander stehenden Augen war dem Gesicht von Godric Body sehr ähnlich.
Doch damit waren die Ähnlichkeiten zwischen dem Gerber und seinem Vetter auch schon erschöpft. William atte Brigge war groß, drahtig und stark, sein Haar dunkel, und seine Augen waren kohlschwarz, hart und grausam. Er war wütend, nicht weil seine Frau das Weib von Shockley angegriffen, sondern weil sie ihn zum Narren gemacht hatte. Als Herleva sich noch etwas benommen aufrichtete, warf er ihr einen bösen Blick zu, der selbst sie erblassen ließ. Dann sah er sich in der Runde um. Godric war noch ganz fasziniert von dem eben erlebten Drama und bemerkte nicht, daß er als einziger noch dastand. Nun kam der Gerber auf ihn zu.
Beim Anblick seines verkrüppelten Verwandten, den er wegen seiner Behinderung haßte, hatte William das Gefühl, Godric mache sich über ihn lustig. Er sah sich verstohlen nach allen Seiten um, ob ihn auch niemand beobachtete. Dann warf er den Jungen zu Boden, daß dieser sich hilflos hin und her wälzte. Er stieß ihn mehrmals in die Seite und machte sich dann wortlos davon. Nun hatte er seine Wut wenigstens teilweise abreagiert.
Godric schwieg zu alledem. Der andere hatte ihm weh getan. Doch als er langsam auf die Beine kam, grinste er vor sich hin. »Das wirst du mir büßen«, murmelte er.
Godefroi betrat die Kirche allein.
Es war ein großer dreischiffiger Bau mit massiven Rundbögen, den die Normannen im äußeren Ring des Kastells errichtet hatten. Wie bei den meisten normannischen Kirchen entsprach der Grundriß einem einfachen Kreuz.
Es tat Godefroi wohl, in diese stillen, feierlichen Räume zu treten und Lärm und Gezänk hinter sich zu lassen. Er hatte Wichtiges zu überlegen.
Sein Ziel war ein bescheidenes Steingrab an der Nordseite des neuen Presbyteriums. Hier betete der Ritter gern, und als er nun niederkniete, strich er liebevoll über die schlichte Steinplatte. Darunter lagen die sterblichen Reste des ehemaligen Bischofs, des frommen Osmund, der die erste Kirche erbaut hatte. Er hatte diese Atmosphäre von Heiligkeit in die Kathedrale auf dem kahlen Hügel gebracht; er hatte die Kanoniker und andere Priester berufen, die das düstere Kastell zu einer Stätte des Lernens machten. Osmund hatte begonnen, Regeln für den Ablauf des kirchlichen Lebens auszuarbeiten, die später unter der Bezeichnung »Sarum-Missale« in ganz England und darüber hinaus im Gebrauch waren. Er war der führende Geist des Ortes gewesen – und für Godefroi blieb er das auch weiterhin.
Es war ein Verbrechen, daß der vorige König das Bistum dieses heiligen Mannes dem arglistigen Roger übergeben hatte. Godefroi wandte sein Gesicht nach oben und sprach laut vor dem Grab des Bischofs: »Was soll ich tun, um meine Seele zu retten?« Wie der König und jedermann sonst wußte Godefroi sehr wohl, daß die ganze Welt sich in einem immerwährenden Kriegszustand befand – nicht nur zwischen Ordnung und Chaos, sondern auch zwischen Gott und Teufel, zwischen Geist und Fleisch. Jeder war sich darüber im klaren, daß er seinen Frieden mit Gott machen mußte, sonst hatte er nach dem Tod ewige Höllenqualen zu erleiden.
Für die Seelenrettung eines normannischen Ritters bot die Kirche
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