Sarum
Pergament gebeugt hielt. Er war so vertieft, daß er den Ritter nicht kommen hörte.
»Was hast du da, Masoun?« fragte Godefroi.
Nicholas blickte hoch. »Dies, Herr? Es ist ein großes Geheimnis. Seht Ihr?« Er hielt ihm das Pergament hin.
Es war eine kunstvolle Zeichnung: ein in vier Segmente unterteilter Kreis, durch die sich ein einzelner Streifen wie eine Schlange in weiten Bögen hin und her wand, bis er in einem kleinen Kreis in der Mitte endete.
Godefroi runzelte die Stirn. »Eine Zeichnung?« Nicholas nickte. »Es ist ein Labyrinth. Schaut!« Er deutete auf den Anfang des Musters und verfolgte mit dem Finger die gewundene Linie der Schlange, vor und zurück, sich wieder zu sich selbst hinwindend, ehe sie ins nächste Segment ging, und so fort bis in die Mitte hin. Voller Staunen erkannte der Ritter die vollendete, so verwirrend anmutende Symmetrie. »Wozu ist das gut?«
»Man findet solche Labyrinthe öfters auf den Fußböden von Kirchen«, führte Nicholas aus, »und manche werden auch im Freien im Rasen angelegt. Es gibt sogar eins in Rom. Es ist nicht nur eine Zierde, man nennt es auch ›Weg nach Jerusalem‹.« Er lächelte. »Es heißt, daß Menschen Buße tun, indem sie auf den Knien hindurchrutschen, wenn sie keine wirkliche Pilgerreise nach Jerusalem machen können.« Auch Godefroi lächelte. »Diese Buße ist wahrscheinlich ebenso gut wie jede andere«, bemerkte er und dachte nicht weiter darüber nach. Zwei Tage darauf, auf dem Weg durch den Buchenwald zu seinem Zufluchtsort, dachte Godefroi wieder an die Schönheit des kleinen Labyrinths. Und als er den stillen Rasenplatz im Kreis der Eibenbäume unter dem weiten Himmel betrachtete, kam es ihm plötzlich in den Sinn, welch ein idealer Ort dies für eine solche Anlage wäre. War es möglich, daß Bischof Osmund sein Gebet erhört hatte?
Godefroi prüfte die Zeichnung nochmals und nahm sich vor, die Sache mit Nicholas zu besprechen.
Im Februar 1140, das Königreich England erfreute sich einer kurzen Friedenszeit, leitete Nicholas, Masoun genannt, ein paar Männer bei einer ausgefallenen Arbeit.
Auf dem abgeflachten Hügel legten sie im Rund der Eibenbäume ein merkwürdiges Muster an; sie teilten den Kreis in vier Segmente, und durch jedes einzelne führten sie vom Kreisbogen her einen gewundenen Pfad, genau der Zeichnung entsprechend, bis zur Mitte. Es war, das wurde Godefroi nun deutlich, eine vollkommene Allegorie des geistigen Lebens: ein kunstvoller und idealer Ersatz für eine Pilgerreise.
»Der Mann, der dies entworfen hat, war ein Weiser«, sagte er zu Nicholas; der Handwerker nickte zustimmend, aber er sah doch nur die Geometrie darin.
Die Konstruktion des Labyrinths war einfach. Der Pfad war einen halben Meter breit und beidseitig durch eine in den festen Kreideboden geschnittene Furche begrenzt, so daß sich ein Muster aus Rasengrün auf weißem Grund ergab. Die Maße besaßen eine nahezu mystische Symmetrie, die den Ritter außerordentlich erfreute. Sechsunddreißig Schritte vom Eingang bis zur Öffnung des inneren Kreises und sechshundertsechsundsechzig Schritte bis zur Mitte. Die Männer arbeiteten sorgfältig und ausdauernd. Drei Tage vor Monatsende war die Arbeit getan.
In den folgenden Jahren wurde das Labyrinth Godefrois, des Herrn von Avonsford, oftmals bewundert; mehr noch bewunderte man die klare, unerschütterliche Frömmigkeit des Ritters, und in ganz Sarum hatte man deshalb große Ehrfurcht vor ihm.
Bald hatte es sich herumgesprochen, daß er sich eine unausgesprochene Aufgabe gestellt hatte – unausgesprochen deshalb, weil er sie in der Dämmerung praktizierte und nie ein Wort darüber verlor. Den Tag über leitete er seinen Besitz, übte seine Pflichten im Kastell aus oder begleitete, wie es ihm oblag, seinen Lehnsherrn. Doch durch all die Jahre, in denen die Anarchie wütete und seine Familie in London lebte, ging er im Winter wie im Sommer, ungeachtet des Wetters, täglich in der Dämmerung zum Labyrinth und rutschte auf den Knien den Pfad entlang bis zur Mitte. Das nahm eine Stunde in Anspruch.
Warum er das tat? Es war sicher kein Fanatismus. Godefroi war ein nüchtern denkender Mann. Es war eher eine grimmige Selbstzucht, ein Überdruß an der Welt, die ihn zu dieser Buße bewog und die ihm, wenn sie ihm auch niemals Seelenfrieden schenkte, doch eine gewisse Befriedigung brachte.
Auf diese Weise, so wurde errechnet, legte er im Jahr mehr als hundert Meilen zurück und ersparte sich, daran zweifelte man
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