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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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wissentlich begangenen Verfehlungen den Sünder zur Hölle schicken würden.
    »Stolz, Geiz, Unkeuschheit, Neid, Unmäßigkeit, Zorn, Trägheit«, zählte er mürrisch auf.
    Portehors nickte. »Und welcher hast du dich heute schuldig gemacht?« Ahnte der Kanonikus etwas? Osmund dachte angestrengt nach. Die Arbeit, mit der er den ganzen Sommer beschäftigt war – der Bau dieses herrlichen Wahrzeichens der neuen Stadt –, war, wie jedermann wußte, Stephen Portehors’ persönlicher Stolz und seine Freude. Die noch nicht fertiggestellten Wasserläufe des neuen Salisbury wurden allseits bewundert. Sie zweigten oberhalb der Stadt vom Avon ab und liefen in einem Netzwerk steinerner Kanäle in der Mitte der wichtigsten Straßen entlang.
    Osmund, der Steinhauer. Dieser Name klang wie Spott in seinen Ohren. Obwohl er wie sein Vater und sein Großvater, die beide gelegentlich in Avonsford als Steinhauer gearbeitet hatten, auch den Beinamen »Masoun« trug, bedeutete das nichts. Er war nichts als ein bescheidener Leibeigener, ein Arbeiter, dem es ab und zu, wenn er Glück hatte, gestattet wurde, die Steine für diese verdammten Kanäle zurechtzuhauen. Denn die wirklichen Steinmetzen arbeiteten an der großen Kathedrale. Das war eine andere Welt. Es traf zu, daß er mitunter von dieser Welt träumte. Nach getaner Arbeit ging er oft in die magische Stille der Einfriedung, sah den Handwerkern in dem gewaltigen Gebäude zu. Er sah die würdevollen Meistersteinmetzen, die der Bauhütte vorstanden, die Erwählten, die von überall her kamen. Doch sie waren, wie auch die einfachen Steinmetzen, schon lange zuvor eingestellt worden. Selbst die Lehrlinge kamen meist aus den gleichen Familien. Wie sollten sie überhaupt Kenntnis nehmen von einem jungen Leibeigenen aus Avonsford, dessen Vater früher in Stein gearbeitet hatte?
    Aber das Zeug zu einem Bildhauer hatte Osmund in sich. Eines Tages, das schwor er sich, würde er einen Weg finden; er würde in der Kathedrale arbeiten, unter diesen Steinmetzen in ihren schweren Schürzen, die Tag für Tag so stolz zu Werke gingen.
    Vor mehr als einem Jahrhundert hatte Godric Body am Galgen gebaumelt. Ein paar Monate später wurde sein Sohn geboren, und da die Mutter im Kindbett starb, war es für seinen Onkel Nicholas nur natürlich, sich des Kleinen anzunehmen und ihn wie einen eigenen Sohn aufzuziehen. Als Folge davon trugen die Kinder und Enkel von Godric Body normalerweise den Beinamen Mason – das normannische Wort Masoun für Steinmetz war inzwischen der englischen Sprache angepaßt.
    Als achtzig Jahre nach Godrics Tod einer seiner Nachkommen seine kleine vierschrötige Base heiratete, vererbten sich der Körperbau, die kurzen Daumen und der große Kopf des Mason-Clans auf ihren Sohn. Wenn er auch das typische Aussehen dieser Familie hatte, verfügte der junge Osmund insgeheim über eine schier grenzenlose Vorstellungsgabe, über ein natürliches Formengefühl, das unmittelbar von dem unglücklichen jungen Schäfer kam, der ein so hervorragender Schnitzer gewesen war und den man gehängt hatte. Obwohl Osmund eine große Liebe zur Bildhauerei hatte, spürte er seinen Genius vorerst nur sehr vage.
    Zur Zeit jedenfalls gab man ihm nichts zu tun als diese Plackerei, und er mußte zugeben, daß er nicht immer so eifrig arbeitete, wie es verlangt wurde.
    Also sah er den dünnen grauhaarigen Priester an und sagte betrübt: »Die Sünde der Trägheit.«
    Kanonikus Stephen nickte. »Ja, du bist träge, weil du die Arbeit nicht liebst. Aber Gott hat dich nicht zum Glücklichsein geschaffen; er hat dich gemacht, um zu dienen. Und nur wenn du ihm dienst, wirst du die himmlische Belohnung erhalten.«
    Osmund ließ seinen großen Kopf hängen. Wenn auch ein Teil von ihm sich immer noch auflehnte, wußte er, daß der Kanonikus zwar hart, aber gerecht war. Er wandte sich zum Gehen.
    »Halt!« kam die unbarmherzige Stimme. »Das ist noch nicht alles. Du verbirgst noch eine Sünde, mein Sohn.« Osmund schwieg.
    »Dann werde ich es dir sagen«, fuhr die schneidende Stimme fort. »Es ist die Habgier.«
    Also wußte er Bescheid. Osmund bekam einen Penny Tageslohn. Er war arm.
    »Männer, die es eigentlich besser wissen sollten, versuchen dich wegzulocken, obwohl du hier gebraucht wirst«, warf ihm der Kanonikus vor. »Gottlose Männer.«
    Jedes Wort davon war wahr. Und doch hielt Osmund es nicht für ein Verbrechen.
    Darauf hatte er wirklich den ganzen Morgen sehnsüchtig gewartet. Die von der Versammlung

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