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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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und am Ende dieses Tages erstand in allen Einzelheiten die Gestalt des Mädchens Cristina in ihrer Vollkommenheit, das lange Haar nach hinten geworfen, auf dem Gesicht der Ausdruck von Unschuld und Wissen, Reinheit und Lüsternheit, die unmöglich scheinende, doch notwendige Verbindung, die sich ihm so viele Monate verweigert hatte.
    Er brauchte sechs Wochen zur Fertigstellung der Paradiesreliefs. Die Szene, in der Adam den Apfel vom Baum der Erkenntnis pflückt, war eine genaue Darstellung von Meister Osmunds Eigendünkel vor seiner Demütigung; die Vertreibung aus dem Paradies zeigte Adam mit geneigtem Kopf – genauso war Osmund voller Scham nach seinem Sündenfall zur Arbeit gegangen.
    Wenn Sarum noch über ihn lachte, nahm Osmund das kaum zur Kenntnis. Er arbeitete von der Morgendämmerung bis in den Abend hinein, fast geistesabwesend, mit leidenschaftlichem Eifer, und er begriff, daß mit jedem vergehenden Tag Gott, der ihn zuerst erniedrigt hatte, nun durch seine Hände ein kleines Meisterwerk erschaffen ließ. Auf diese Weise vollendete Osmund die Reliefs des Kapitelsaals.
    Schon vor dem Jahr 1289 hatte der neue Turm die Stadt beherrscht.
    Wo Mittelschiff und Seitenschiffe aufeinandertrafen, hatten die Steinmetzen nun einen zweiten Bauabschnitt begonnen – einen massiven quadratischen Turm, der das Dach an die dreißig Meter hoch mit seinen zwei Geschossen überragte, die Wände elegant durch große Lanzettbögen aufgelockert. Er konnte von allen fünf Flüssen aus gesehen werden und schien bis in die Wolken zu wachsen. Nach der Fertigstellung des Turms sollte eine weitere in die Höhe strebende Konstruktion, ein schlanker Turmhelm, darauf gesetzt werden.
    An einem warmen Septembermorgen im Jahre 1289 war es allerdings nicht der Turm, der die kleine Gruppe beim Einfahren in die Stadt über die Fisherton Bridge anhalten ließ und ihren Blick fesselte. Es war eine zusammengekrümmte Gestalt, die an der Straße lag. Der wackere alte Bürger Peter Shockley stieg langsam von seinem zweirädrigen Wagen und identifizierte den Mann.
    »Lebt er noch?« Jocelin de Godefroi blickte traurig von seinem Pferd herab.
    Shockley nickte. »Gerade noch.«
    Die Gestalt am Straßenrand war schwarz gekleidet, die bloßen Füße waren schmutzig; die Haube, die Peter Shockley soeben hochgehoben hatte, war übers Gesicht gezogen, so daß nur die Spitze des fleckigen, glanzlosen grauen Bartes sichtbar wurde. Das tabula -Zeichen auf seiner Brust, das den Mann als Juden auswies, war auf Geheiß des Königs nun gelb und sehr viel größer als in früheren Jahrzehnten. Der Mann war nur halb bei Bewußtsein.
    Der Ruin des Aaron von Wilton hatte sich über vierzig Jahre hingezogen, war nun jedoch vollkommen, und er stellte den Triumph der Gottesfürchtigen über die Ungläubigen dar. In einer langen Reihe von Edikten war der sonst so aufgeklärte Monarch Eduard I. den sporadischen Verfolgungen seitens seines frommen Vaters Heinrich bis zur logischen Konsequenz gefolgt. Die jüdische Gemeinde wurde durch Abgaben überfordert, der Geldverleih wurde ihr verboten, ebenso der Handel – außer zu schier unannehmbaren Bedingungen; die Abgaben wurden nochmals erhöht, und als einige Jahre zuvor fast jeder aktive jüdische Kaufmann ins Gefängnis geworfen wurde, bis er eine weitere, extrem hohe Buße bezahlt hatte, war Aaron von Wilton endlich in den Ruin getrieben worden.
    Er war zu alt, um anderswo sein Glück zu versuchen. Er hatte keine Familie mehr. Mit einigen noch Verbliebenen der Wilton-Gemeinde hatte er sich durch kleine Wollgeschäfte gerade über Wasser halten können; seit kurzem aber war er aufs Betteln angewiesen. Er war an diesem Morgen bei Dämmerung von Wilton weggegangen und an der Brücke aus Erschöpfung zusammengebrochen. Einige Stunden lang hatte sich keiner um ihn gekümmert.
    Die kleine Gruppe, die nun auf ihn hinunterstarrte, umfaßte drei Generationen. Hinfällig, doch immer noch aufrecht im Sattel, hatte Jocelin de Godefroi überlebt, umsichtig seine beiden Anwesen im Tal für seinen Enkelsohn verwaltet, länger, als er es zu hoffen gewagt hatte. Roger de Godefroi erfüllte alle Erwartungen seines Großvaters; mit seinen siebenundzwanzig Jahren war er ein hervorragender Repräsentant der Ritterklasse, wie sein Vater vor ihm. Die Besitzungen waren in bestem Zustand; nicht einmal der trockene Sommer des Vorjahres, als viele Schafe von der Räude befallen wurden, und auch nicht die schlechte Sommerernte konnten mehr als

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