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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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eine kleine Kerbe in den von ihm geschaffenen Wohlstand schlagen.
    Zwischen diesen beiden stand altersmäßig Peter Shockley; seine hohe, kräftige, grauhaarige Gestalt strahlte Autorität aus. Nur der Druck seines ständig sich ausweitenden Unternehmens hatte ihn davon abgehalten, die Stadtgemeinde als Bürger in den verschiedenen Parlamenten während Eduards Regierung zu vertreten. Seit seiner Heirat mit Alicia war dem Kaufmann das Glück hold gewesen. Trotz ihrer grauen Haare hatte sich seine Frau ihre sommersprossige Haut wunderbar jung bewahrt. »Ich bin sechzig, aber durch sie fühle ich mich halb so alt«, pflegte er stolz zu verkünden.
    Neben ihm im Wagen saßen zwei hübsche junge Menschen: sein Sohn Christopher und seine Tochter Mary.
    Alle fünf blickten auf den Juden, jeder mit einer anderen Empfindung. Jocelin dachte an den vornehmen Aristokraten, mit dem er und der alte Edward Shockley in jungen Jahren Geschäfte gemacht hatten. Peter dachte an einen Geldverleiher in mittleren Jahren, den er zur Zeit Montforts hatte verteidigen wollen. Der junge Roger de Godefroi sah einen Ungläubigen, den er als Ritter verachten sollte, und die beiden Kinder von Shockley sahen nur einen alten, unbekannten Landstreicher, der sich sein Unglück selbst zuzuschreiben hatte, da er den wahren Gott hartnäckig leugnete.
    Und so waren die Kinder entsetzt, als sie die Worte Jocelins de Godefroi an seinen Enkel hörten: »Heb ihn auf, und leg ihn in den Wagen. Wir nehmen ihn mit nach Avonsford.« Roger runzelte die Stirn und zögerte. Mußte er diesen widerwärtigen alten Körper wirklich berühren? Doch ein Blick seines Großvaters genügte; er neigte gehorsam den Kopf, und mit Hilfe Peter Shockleys hob er den immer noch Bewußtlosen langsam hoch und legte ihn hinten in den Wagen.
    »Nach Avonsford«, ordnete Jocelin an. »Er kann sich dort erholen oder sterben.« Und die kleine Prozession setzte sich in Bewegung. Während sie den alten Mann in den Wagen hoben, bemerkte niemand, daß das Siegel, mit dem er seine Dokumente zeichnete, aus den Falten seines Gewandes rutschte und auf die staubige Straße rollte. John, der Sohn von William atte Brigge, fand es eine halbe Stunde später, hob es auf und steckte es sorgfältig in den Beutel an seinem Gürtel. Als der Wagen, von Salisbury kommend, in den Hof des Herrenhauses von Avonsford einfuhr und Aaron ins Haus getragen wurde, sagte Mary Shockley nichts. Doch sobald sie Avonsford hinter sich hatten und durchs Tal auf die Stadt zuholperten, platzte sie heraus: »Warum hat der Ritter den alten Juden mitgenommen? Und warum mußten wir ihn tragen?«
    »Aaron hat meinem Vater anfangs mit der Mühle geholfen«, erinnerte Peter sie ruhig.
    »Dann sollten wir uns schämen«, erwiderte sie hitzig, »er ist ein Wucherer.«
    Peter zuckte nur die Achseln.
    »Ich hätte den alten Juden in den Fluß geworfen«, fuhr sie trotzig fort, worauf ihr Bruder Christopher grinste, denn Marys Ausbrüche waren allbekannt.
    Sie war eine auffallende Erscheinung – ein einundzwanzigjähriges Mädchen, so groß wie der Bruder, aber vielleicht stärker als er. Mit ihrem schönen, gestählten Körper und dem langen flachsblonden Haar war sie ihren sächsischen Ahnen nachgeraten, außer in einer Hinsicht: Von ihrer Mutter hatte sie die zarten Sommersprossen auf der Stirn und die außergewöhnlichen veilchenblauen Augen. Als Kind war sie ein richtiger Wildfang gewesen, konnte schneller laufen und besser kämpfen als alle anderen; und nun, obwohl sie eine eindrucksvolle Persönlichkeit war, mußte ihr Vater doch zugeben: »Sie ist zwar eine Schönheit, aber sie benimmt sich wie ein Mann und ist so störrisch wie ein Esel.« Selbst Alicia hatte es längst aufgegeben, ihre Tochter zu feinen Kleidern zu überreden und dazu, sich mit der Anmut einer jungen Dame zu bewegen. »Wenn wir je einen Ehemann für sie finden, muß er sie so nehmen, wie sie ist«, gab sie wehmütig zu. Ihr Charakter aber machte wenigstens die Verteilung des Shockley-Besitzes einfach. »Sie bekommt natürlich den Gutshof«, sagte Peter, »und Christopher wird das Geschäft übernehmen.« Damit waren die Kinder einverstanden, denn Christopher hatte bereits eine rasche Auffassungsgabe hinsichtlich der aufblühenden Geschäfte der Shockleys bewiesen, während Mary nur glücklich war, wenn sie mit den Leuten auf dem Hof arbeiten konnte.
    Doch trotz ihres überschäumenden Temperaments hatte Mary eine unvermutete Passion: einen unerschütterlichen

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