Sarum
Künstlerauge an einem zerstörten Steinhaus neben dem Tor in einem Schutthaufen einen kleinen grauen Gegenstand. Als er ihn aufhob, sah er, daß es ein bearbeiteter Stein war, nicht größer als seine Faust; er fuhr mit seinen kurzen Fingern die Konturen entlang, und auf seinem ernsten Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
Es war das seltsame Figürchen einer nackten Frau mit großen Brüsten und ausladenden Hüften; es paßte genau in die Wölbung seiner Hand. Achthundert Jahre waren vergangen, seit man die Figur von Akun, der Frau des Jägers, zum letztenmal gesehen hatte, und doch war ihr Fundort gar nicht so abwegig. Sie war mit Tarquinus, dem Heiden, flußaufwärts gereist, wurde eines Tages heimlich von ihm zurückgebracht und in eine versteckte Wandnische in Sorviodunum gestellt, wohin sie gehörte. Sorviodunum wurde verlassen; seine Gebäude stürzten ein, und durch die Jahrhunderte wurden die Steine verstreut, bis keine sichtbare Spur mehr blieb.
Manche Steine waren auf den Hügel getragen worden, und später hatten normannische Baumeister unwissentlich die kleine Figur mit einem Haufen Abfall, der als Füllmasse verwendet wurde, in einen Mauerhohlraum eines Hauses auf dem Kastellhügel gekippt. Auf ihrer achttausendfünfhundert Jahre dauernden Reise war sie doch nie weit von dem kleinen nördlichen Tal entfernt gewesen, und jetzt nahm der alte Steinmetz, der von ihrer Form entzückt war, sie mit nach Avonsford. Einige Tage lang überlegte er, was er mit der Figur anfangen sollte; dann kam ihm eine Idee, die ihn froh stimmte.
Er hatte sich geirrt – der Turm der Kathedrale war nicht eingestürzt. Obwohl die Kathedrale selbst weiterhin absank, sah es schließlich doch so aus, als sollte der Turm stehenbleiben. Wenn Osmund den Bau auch kritisierte, frohlockte er heimlich, daß die edle Struktur und die vielen Skulpturen am Ende doch sicher waren. Als er an den Turm dachte, hatte er den Einfall. Einige Tage später ging Osmund in der Abenddämmerung langsam zur Kathedrale. Die Steinmetzen hatten ihr Tagewerk am Turm beendet, und der Platz lag verlassen da. Niemand sah, wie Osmund die Kathedrale betrat und die lange Treppe ins obere Geschoß hochstieg, erst bis zur Spitze der großen Arkaden, dann bis zum darüberliegenden Obergaden, zuletzt auf gleicher Höhe mit dem Gewölbe.
Wie er gehofft hatte, war die Tür zu einer der vier Turmtreppen offen. Er erklomm die enge Wendeltreppe: sechs Meter, zwölf Meter bis zum ersten Absatz mit der Brüstung. Er stieg weiter und atmete schwer dabei, und endlich kam er oben auf der Plattform an. Die Turmspitze war noch nicht in Angriff genommen worden, und nichts war über Osmund als der offene Himmel. Er befand sich Sechsundsechzig Meter über dem Erdboden. Osmund ging an der Brüstung entlang und untersuchte sie genau. Es gab Dutzende von kleinen Mauernischen; manche enthielten Figuren, andere waren leer, und schließlich entdeckte er an der Außenkante der Brüstung eine Öffnung, in die ein kleiner Kopf genau passen würde. Er nahm aus seinem Beutel Meißel und Hammer, und ungeachtet der Höhe lehnte er sich über die Brüstung und vertiefte die Nische, senkte das Figürchen von Akun in den Hohlraum, so daß nur der Kopf über den Rand ragte, während der Körper verborgen war. Osmund fand Mörtel und einen Eimer mit Wasser, und kurz darauf war das Figürchen für immer an diese Stelle gebunden.
Er lächelte. Der Kopf war so klein, daß ihn sicher nie jemand bemerken würde; aber er war da und blickte nach Norden zur Anhöhe hin, ein letzter Beitrag des Meistersteinmetzen zur Kathedrale, entgegen dem Wunsch der Zunft – zur Kathedrale, die sein Leben gewesen war. Er gab dem Köpfchen einen zärtlichen Schlag. »Wenn der Turm stehenbleibt, bleibst auch du«, sagte er.
Und so fand Akun einen neuen Ruheplatz in dem steinernen Turm hoch über der Landsenke, wo die fünf Flüsse einander trafen.
1310 Nun endlich war das große Werk nahezu vollendet. Als letztes wurde der neuen Kathedrale ihr dramatischstes Merkmal hinzugefügt, die krönende Zierde, die die herrliche Kirche zu einem wahren Wunder machte – so etwas gab es auf der ganzen Insel nicht, kaum irgendwo sonst in Europa.
Dieser spitz zulaufende oktogonale Turmhelm, jener unbeschreiblich schmale graue Kegel, ragte weitere fünfundfünfzig Meter hoch. Das erhöhte die Kathedrale um das Doppelte – auf mehr als hundertzwanzig Meter. Jahr um Jahr wuchs er höher über dem stattlichen Turmkörper auf,
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